ZAP Nr. 7, 2012, Beilage: Dr. Egon Schneider zum 85. Geburtstag, Seite 321

Die Anfänge des Denkens im alten Griechenland
Von Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Rechtsanwalt beim BGH, Karlsruhe

EGON SCHNEIDER erreicht diesen April sein 85. Lebensjahr, Statt sich feiern zu lassen, beschenkt er andere, wie er das zeitlebens mit seinem -weit über das Juristische hinausgehenden - Wissen und Können getan hat. Er löst seine umfangreiche Bibliothek auf. Mir hat er - wofür ich ihm sehr dankbar bin - nicht mehr zu beschaffende Werke über Logik und Methodenlehre geschenkt. Zum Dank dafür ist ihm - dessen klares Denken und Artikulieren demjenigen der frühen griechischen Philosophen gleicht - dieser Artikel gewidmet.

I. Anfänge des Denkens
Wenn über die Anfänge des Denkens im alten Griechenland geschrieben wird, muss man sich mit der Frage beschäftigen: Was ist Denken?

HEIDEGGER sagt in seiner Abhandlung „Was heißt denken?" (Tübingen 1971, „denken" trotz Substantivierung des Verbs bei ihm klein geschrieben - nicht das einzige Geheimnis seiner Schrift): „Das Bedenklichste in unserer bedenklichen Zeit ist, dass wir noch nicht denken".

Der Satz von HEIDEGGER ist wahr. Allerdings: wenn man seine Ausführungen liest, ist man hinterher - wie bei vielen neueren Philosophen - genauso schlau als wie zuvor. Trotz wortreicher Ausführungen ist dieser Philosoph entweder nicht in der Lage oder nicht Willens, die Frage auch nur annähernd zu beantworten. Seine Ausführungen sind ähnlich dunkel, wie man das bei vielen neueren Philosophen feststellt. So liest sich etwa die Schrift des Karlsruher Philosophen SLOTERDIJK: „Du musst Dein Leben ändern", wunderbar und ist sprachlich von höchster Eleganz. Aber was er uns eigentlich sagen will, bleibt - weitgehend - unter einem Gewitter brillanter Formulierungen verborgen. Das erinnert an den Aphorismus von NIETZSCHE aus den fröhlichen Wissenschaften, Drittes Buch: "Wer sich tief weiß, bemüht sich um Klarheit, wer der Menge tief erscheinen möchte, um Dunkelheit". Wer die Schriften von EGON SCHNEIDER liest, erkennt an dem knappen, brillanten und klaren Stil sofort, zu welcher Kategorie der Jubilar gehört.

Hinweis:
Dass das Denken und Denken-Können leider auch nicht sehr verbreitet ist, liegt nicht zuletzt daran, dass es weder auf Schulen noch Universität gelehrt wird. Man zieht es vor, die Lernenden - unter gleichzeitiger Erhebung von Klagen über zu lange Ausbildungswege - mit einer Unmenge von Detailwissen vollzupfropfen, das sie nach kurzer Zeit wieder vergessen haben. Dagegen ist die Methodik des klaren Denkens leider meistens weder Gegenstand der Ausbildung noch der Reflexion.

Der Titel meines Aufsatzes scheint doppeldeutig. Fängt das Denken im alten Griechenland an oder geht es hier nur um die Anfänge des Denkens, soweit sie im alten Griechenland entstanden sind? Ich meine: Trotz hoher kultureller Entwicklungen an anderen Orten (beispielsweise Ägypten) liegt der Beginn des außerhalb der Mathematik strukturierten Denkens im alten Griechenland. Dort wurde die Logik als richtige und einzige Methode des folgerichtigen Denkens erkannt. Dieser Logik- entwickelt zunächst von den griechischen Sophisten und dann vor allem von ARISTOTELES - geht aber zunächst erkenntnistheoretisch ein wesentlicher Vorgang voraus. Es reicht nicht, den Satz von DESCARTES zu zitieren: „Ich denke, also bin ich".

Das Denken macht sich ja zunächst an irgendetwas fest, und das ist nach Auffassung der meisten Vorsokratiker die Erfahrung oder die Erkenntnis der umgebenden Natur durch die Sinne. Was ich um mich herum erfahre oder was ich erkenne, ist der Anknüpfungspunkt dafür, dass ich mich denkend und logisch folgernd damit befassen kann. Das ist der entscheidende Punkt, durch den sich die Vorsokratiker von dem unterscheiden, was es zuvor gab. Die meisten vorsokratischen Denker sind Empiriker, die erkenntnistheoretisch so vorgehen, dass sie zunächst die sie umgebende Natur wahrnehmen und dann ihre Folgerungen daraus ziehen. Und genau dieses Voranschreiten aus richtig erkannten Tatsachen zu weiteren Schlussfolgerungen ist der eigentliche Vorgang des Denkens. Den haben die Vorsokratiker entdeckt. Dabei sind die meisten von ihnen von dem ausgegangen, was sie um sich in der Natur zu erkennen glaubten.

Ich täusche mich nicht darüber, dass hohe kulturelle Leistungen nicht unbedingt nur im alten Griechenland entstanden sind. Es gibt- auch für das richtige Denken - zahlreiche Vorläufer und Vorbilder. In China haben LAO-TSE und KUNG-FU-TSE ethische Grundsätze entwickelt, in Indien hat BUDDHA SIDDHARTHA eine auf Achtsamkeit gegründete Ethik und eine pessimistische Weltsicht (Leben als Leiden) gelehrt. In Persien zeugen ZARATHUSTRA, in Israel die Propheten des Alten Testaments und in Indien und Ägypten die Repräsentanten der alten Hochkulturen für eine - auch was Denken angeht - hoch entwickelte Kultur. Dennoch ist es so, dass viele wesentliche Fragen, Themen und Bedingungen, die philosophisches Denken ausmachen, erstmalig in den erhaltenen Äußerungen der Vorsokratiker aufzufinden sind. Nach einer verbreiteten Auffassung - und ich halte sie für richtig - begann im alten Griechenland in der Zeit um 600 vor Christus das wissenschaftliche Denken. Es vollzog sich nämlich im 6. Jahrhundert vor Christus der Schritt vom Mythos zum Logos, von der bildhaft-magischen Weltinterpretation zu einer rationalen vernunftgeleiteten Welterklärung, die weitgehend auf sinnlicher Wahrnehmung, also Empirie, beruht. Die aus früher Zeit überlieferten Werke, beispielsweise von HOMER - die bekannte Ilias und Odyssee -(9. Jh. v. Chr.) erzählen Mythen, die das Dasein und die Welt in bildhaft - anschaulicher Weise verknüpfen, großartige Epen, verfasst in der Dichtform der Hexameter („...Andra moi ennepe mousa, polytropon, hos mala pola planchte epei Troies hieron polyetron eperse...", „Nenne mir den Mann, Muse, den vielgewandten, der viel Schlimmes erduldete, nachdem er die heilige Stadt Troja vernichtet hat ...").

Die Götter leben dort mit den Menschen, kämpfen mit ihnen um Eroberung oder Verteidigung von Troja oder begleiten den listigen ODYSSEUS auf seinen Irrfahrten. Sagenumwobene Vorgänge bestimmen die Geschicke der Welt. Der Mythos versucht, das Dasein von Mensch und Gott in der Griechischen Sagenwelt erzählend, nicht denkend zu erklären. Oft können Bilder und Mythen Realität vielleicht intuitiv besser erfassen als philosophisches Denken. Trotzdem ist den vorsokratischen Philosophen der Verdienst zuzuschreiben, den Versuch unternommen zu haben, das Denken aus den Fesseln mythischer Anschauung zu lösen und damit vom subjektiven intuitiven Erleben hinzuführen zu einer rationalen, nachvollziehbaren, gedanklichen Klarheit. Erstmals die Vorsokratiker sind vorangeschritten vom Mythos zum Logos, von der bildhaften magischen Weltdeutung zur rationalen vernunftgeleiteten Erklärung der Welt. Wer denkt, versucht Klarheit- das heißt Ordnung - in die Welt und in das Leben zu bringen. Das haben die frühen griechischen Denker mit ihrer Philosophie getan. In dieser Tradition der Klarheit und Durchdringung der (Rechts-)Wirklichkeit steht auch der Grandseigneur des Zivilprozesses, EGON SCHNEIDER.

II. Der Beginn der vorsokratischen Philosophie
Den Anfang begründen zunächst die noch im 7. Jahrhundert vor Christus geborenen sogenannten milesischen Naturphilosophen. Zu diesen zählen die Denker THALES, ANAXIMANDER UND ANAXIMENES. Dann gibt es die Eleaten, etwa XENOPHANES, PARMENIDES und dessen Schüler ZENON. Aus Athen stammt ANAXAGORAS. Und schließlich haben wir die Naturphilosophen des 5. Jahrhunderts HERAKLIT, EMPEDOKLES, ANAXAGORAS, LEUKIPP und DEMOKRIT. Die milesischen Philosophen kommen aus Ionien, einem Land an der kleinasiatischen Küste (heute Türkei).

Die Eleaten lehrten in Süditalien. Dorthin — nämlich in die Gegend des heutigen Kalabrien — sind zahlreiche Griechen aus ihrem Heimatland in früher Zeit abgewandert. Ich erinnere an AENEAS, der nach dem Fall von Troja mit seinem Vater ANCHISES, den er auf den Schultern trägt, mit Gefährten in zwanzig Schiffen letztlich in Italien gelandet ist und als Gründer von Rom gilt. In der Nähe von Salerno befand sich in antiker Zeit die Stadt Elea. Von dort stammen die Eleaten XENOPHANES, PARMENIDES und ZENON. Begonnen hat die griechische Philosophie allerdings mit den milesischen vorsokratischen Denkern. Diesen ging es darum, den Urstoff der Welt zu entdecken, die sogenannte arche. In den ersten Jahrzehnten des 6. Jahrhunderts haben diese Denkansätze in lonien begonnen, einem Landstrich an der kleinasiatischen Küste (heute Türkei). Dort wurden verschiedene Städte gegründet, beispielsweise Milet. An diesem Küstenstreifen endeten die großen Karawanenstraßen, die aus dem Inneren von Asien kamen. Sicher ist auch viel aus Asien, Indien oder Ägypten stammendes Gedankengut auf diesem Wege in den griechischen Sprachraum gelangt. Hier begann die Philosophie der Vorsokratiker, die sogenannte ionische Kehre. Man bezeichnet sie als die radikalste Wende in der Geschichte des Denkens: Der Weg von unberechenbarem Wirken der Götter zu einer geordneten Deutung der Natur. Anders als die späteren Denker — SOKRATES, PLATON, ARISTOTELES — die nur in Athen wirkten, traten die Vorsokratiker im gesamten griechischen Sprachraum auf.

Es ist im vorliegenden Zusammenhang nicht möglich, sich mit sämtlichen Vorsokratikern oder gar sämtlichen griechischen Philosophen zu beschäftigen. Ich möchte aber kurz auf einzelne herausragende Gestalten in der vorsokratischen Philosophie eingehen.

1. Thales von Milet (624-546 v. Chr.)
THALES war ein Ingenieur aus Milet. Vielleicht ist er das Urbild des zerstreuten Professors: Bei der Beobachtung von Sternen soll er — erfreulicherweise nur mit glimpflichen Folgen — in einen Brunnen gefallen sein. Seine Mutter hat unentwegt versucht ihn zu verheiraten und nach einer Braut für ihn zu suchen. Er wollte davon nichts hören und antwortete auf alle Versuche der Mutter auf die Frage warum er denn nicht heirate: „Es ist zu früh". Eines Tages als sie ihn wieder fragte antwortete er: „Jetzt ist es zu spät".

Ich weiß nicht, ob diese von THALES überlieferte Geschichte dazu geführt hat, dass er als einer der sieben Weltweisen gilt. Seine Leistung bestand jedenfalls nicht nur im Verzicht auf die Ehe. THALES hat beispielsweise die Höhe der ägyptischen Pyramiden durch Messung des Schattens ermittelt. Er war der Erste in der Denkgeschichte der Menschheit, der im Jahr 585 v. Chr. korrekt eine Sonnenfinsternis vorhergesagt hat. Das hat seinen Ruf als Weiser natürlich außerordentlich gefestigt. Seine Theorie zur Entstehung der Welt: Die Welt ist aus Wasser entstanden. Diese Erkenntnis hat THALES aus der Beobachtung abgeleitet, dass das Meer, an dem er lebte, so voller Leben ist und dass Leben Wasser benötigt. Der Vorgang, wie Sonnenerwärmung zur Verdunstung des Wassers führt, bis sich daraus Nebel und Wolken bilden und dann das Wasser als Regen zurückkehrt, hat ihn zu der Überzeugung gebracht, dass die Erde eine Art konzentriertes Wasser darstellt. Sein Verdienst besteht unter anderem darin, entdeckt zu haben, dass eine Substanz wie das Wasser auch in verschiedenen Zustandsformen existieren kann. Die Gestirne - so THALES - bestehen aus glühender Erde (sind also nicht Götter, wie beispielsweise die Babylonier meinten).

2. Anaximander aus Milet (611-545 v. Chr.)
ANAXIMANDER ging in die Kulturgeschichte ein als der Urheber der allerersten Erdkarte. Angeblich soll er auch die Sonnenuhr erfunden haben. Offensichtlich ist er—ebenso wie THALES —weit gereist. ANAXIMANDER ist bereits davon ausgegangen, dass unsere Erde von unzähligen anderen Welten umgeben ist. Lebewesen entstehen nach seiner Auffassung aus dem Feuchten, von wo sie auf das Trockene wanderten und ihre Lebensform änderten. Der Mensch muss sich nach seiner Auffassung aus einem Tier entwickelt haben. Hier sehen wir Erkenntnisse, die später durch die Entdeckung des Milchstraßensystems oder die Darwin´schen Thesen bestätigt worden sind. Nach Auffassung von ANAXIMANDER ist der eigentliche Urstoff nicht das Wasser, sondern eine unbestimmte Substanz, von ihm apeiron genannt, Urstoff des Universums, den die griechischen Philosophen gesucht haben wie die späteren deutschen Romantiker die blaue Blume.

3. Anaximenes aus Milet (585-528 v. Chr.)
Nach ANAXIMENES ist das Entscheidende die Luft. Er verfasste eine Abhandlung „Von der Natur", in der er die These vertritt: Wie unsere Seele, die aus Luft besteht uns zusammenhält, so umschließt auch der Lufthauch das ganze Weltall. ANAXIMENES hat als erster die These aufgestellt, dass der Mond sein Licht von der Sonne bekommt.

Hinweis
Gemeinsam ist all diesen drei Philosophen, die aus Milet stammen, dass in ihren Theorien Götter und Dämonen keine entscheidende Rolle spielen. Das Denken und die Analysen, die teilweise überraschend richtige Ergebnisse erzielen, kommen aus der Erkenntnis der Natur, die aus sich selbst heraus entsteht und aus sich selbst heraus verstanden werden kann. Die ersten Vorsokratiker sind also Empiriker, die mit den uralten animistischen Theorien der Mythen aufräumen und damit eine ähnliche Entwicklung in Gang gesetzt haben, wie sie viel später durch die Aufklärung des 18. Jahrhunderts in die Wege geleitet worden ist.

4. Anaxagoras (um 500-428 v. Chr.)
Er wirkte in Athen. Man nannte ihn mit Beinamen: nous, der Geist. Um von Dingen des Alltags nicht übermäßig in Anspruch genommen zu werden, schenkte er seine angeblich umfangreichen Besitztümer seinen Verwandten. Berühmt war er für sein astronomisches Wissen.

Interessant ist, dass die bisherigen ionischen Philosophen jeweils ein bestimmtes Element oder einen bestimmten Stoff für den entscheidenden Faktor der Welterkenntnis gehalten haben, anstatt ihr Zusammenwirken zu beurteilen. Mich erinnert das an ein Lied aus dem Augsburger Tafelkonfekt von VALENTIN RATHGEBER (1646 bis 1 721). Dort streiten in einer sängerischen Auseinandersetzung Bässe und Tenöre darum, ob der Schnupftabak, das Geld, der Wein oder der Mund einer holden Magd, also die Liebe, die höchsten Freuden sind. Offenbar muss aus ihrer Sicht entschieden werden, was das Beste ist. Warum allerdings ein philosophischer Wettstreit um Platz 1 (außerhalb des Fußballfeldes) überhaupt notwendig ist, lässt sich weder dort noch bei den Elementen der Naturphilosophen entscheiden. Alles zusammen macht die Welt aus, wie die Elemente insgesamt die Welt bilden. Das erste Mal von einem Zusammenwirken aller Urstoffe redet dementsprechend der Athener ANAXAGORAS. Er vertrat die Auffassung, es gebe nicht nur einen oder mehrere Urstoffe, sondern eine unbegrenzte Menge qualitativ verschiedener Weltbausteine. Im Gegensatz zu etlichen anderen Naturphilosophen war er Meinung, dass ein denkender, vernünftiger und allmächtiger, aber unpersönlicher Gott den Anstoß für die Entstehung der Welt gegeben habe. Hier entsteht die Vorstellung vom deus absconditus, eine Vorstellung die dann später bei LUTHER (de servo arbitrio -Vom unfreien Willen - aus dem Jahr 1525) als Gegensatz zum deus relevatus eine wichtige Rolle spielt.

Geradezu widersinnig ist es, dass gerade ANAXAGORAS dann in Athen der Gottlosigkeit angeklagt wurde, obwohl ausgerechnet er die Theorie der Existenz eines Gottes vertreten hatte. Er wurde zum Tode verurteilt. Der Hinrichtung hat er sich durch die Flucht entzogen. Hier haben wir zum ersten Mal in der bekannten Geschichte das Phänomen, das sich dann später bei SOKRATES und JESUS VON NAZARETH wiederholt hat: Außergewöhnliche- gerade nicht gottlose - Menschen fürchtet die in der „political correctness" gefangene Masse. Mit solchen herausragenden Persönlichkeiten wird sie nicht fertig. Dann verurteilt man sie halt als angebliche Gottesleugner zum Tode, so SOKRATES 399 v. Chr. (Hinrichtung durch Giftbecher, die Flucht hat er abgelehnt) und JESUS VON NAZARETH 33 n. Chr. (Tod am Kreuz).

Interessant ist, dass schon in einer so frühen Phase der Philosophie die Welterkenntnis an einem bestimmten oder mehreren Elementen festgemacht wurde. Bereits die ionischen Philosophen haben das ja getan. Sie sprechen von Feuer, Wasser, Luft und Erde. Wer erinnert sich da nicht an MOZARTS „Zauberflöte" und die den Protagonisten TAMINO und PAMINA auferlegte Feuer- und Wasserprobe?

5. Pythagoras (570-510 v. Chr.)
Eine außerordentlich vielseitige und sagenumwobene Gestalt ist der Denker PYTHAGORAS. Die Wissenschaft streitet, ob man ihn als naturwissenschaftlich forschenden Geist oder als Mystiker bezeichnen soll. Wahrscheinlich war er beides. Jedenfalls hat er eine einflussreiche religiös-philosophische Bewegung gegründet. Viele seiner Anregungen hat PYTHAGORAS - offensichtlich weit gereist - vermutlich aus Ägypten oder Persien. Jedenfalls war er ein Anhänger der asiatischen Lehre von der Seelenwanderung. PYTHAGORAS gehört zu den Griechen, die nach Unteritalien ausgewandert sind. Seine mathematischen Erkenntnisse (der Satz des PYTHAGORAS: a²+b²=c²) sind jedem Schüler bekannt. Über diesen Philosophen wird viel spekuliert. Genaues weiß man nicht. Ob es Realität oder Legende ist, dass er den Begriff der Philosophie begründet hat, ist offen. Jedenfalls: Als er gefragt wurde, ob er ein Weiser sei, erklärte er nach der Überlieferung in der typisch altgriechischen Bescheidenheit: „Nein, aber ich bin ein Freund der Weisheit". Damit war der Begriff der Philosophie geboren. Philos bedeutet Freund, Sophia die Weisheit. Deshalb bezeichnen viele PYTHAGORAS als den Ahnherren zumindest des Begriffs der Philosophie.

6. Parmenides (540-480 v. Chr.)
Ich möchte noch auf zwei ganz besonders herausragende vorsokratische Denker eingehen, nämlich den Eleaten PARMENIDES und den von den Vorsokratikern wohl wichtigsten lonier aus Ephesos, HERAKLIT.

PARMENIDES hat seine Gedanken in einem Gedicht ausgedrückt, das auch wieder „Von der Natur" heißt. Dort lässt er sich von einem mit feurigen Pferden gezogenen Wagen auf einen Weg führen, auf dem er die Göttin der Gerechtigkeit DIKE trifft, die ihm die Wahrheiten verkündet, die er dann lehrt. Bekannt ist er für seinen Satz „nur Seiendes gibt es, aber das Nichts ist nicht." Er vertritt rationalistische Gedanken. Die Sinne sind nach seiner Auffassung Quelle allen Irrtums. Da unterscheidet er sich also gerade deutlich von den Empirikern aus Milet und kann als Begründer des Rationalismus und damit als Vorreiter von PLATON und später auch DESCARTES gelten. Seine Meinung war: Es gibt in Wirklichkeit gar keine Bewegung. Die Sinne täuschen uns eine Welt des Werdens und der Bewegung vor. Es gibt nur ein unveränderliches, beharrendes Sein. Der Schüler von PARMENIDES, ZENON, hat versucht, diese Theorie des Fehlens aller Bewegung durch das berühmte Beispiel von ACHILLES und der Schildkröte zu illustrieren und damit die Lehren des PARMENIDES zu stützen. Bekanntlich versucht ZENON zu belegen, dass auch ein schneller Läufer wie ACHILLES bei einem Wettrennen eine Schildkröte niemals einholen könne, wenn er ihr einen Vorsprung gewährt. Die Begründung: Bevor ACHILLES die Schildkröte überholen kann muss er ihren Vorsprung einholen. In der Zeit in der er das tun kann, hat die Schildkröte aber schon einen neuen, wenn auch kleinen Vorsprung gewonnen, den ACHILLES ebenfalls erst einholen muss. Das wiederholt sich dann immer so, dass nach dementsprechender Argumentation die Schildkröte immer einen kleinen Vorsprung behält. Tatsächlich beruht dieser Schluss auf zwei Fehlern. Aus der Tatsache, dass die Teilungshandlung des Vorsprungs beliebig oft durchgeführt werden kann, folgt nicht, dass die zu durchlaufende Strecke unendlich wäre oder dass unendlich viel Zeit erforderlich wäre, sie zurückzulegen. Die Erfahrung lehrt also, dass jedenfalls dieses Beispiel die These von PARMENIDES von der Starre des Seins und dem Fehlen jeder Bewegung nicht stützt.

Sicheres Wissen — so PARMENIDES — erlangt man nicht durch sinnliche Wahrnehmung (also gerade nicht empirisch), sondern durch Vernunfterkenntnis (DESCARTES: „cogito ergo sum"). Nach seiner Skepsis gegenüber der Erscheinung der sinnlichen Welt muss man PARMENIDES deshalb als Rationalisten und nicht als Empiristen bezeichnen. Er erklärt, dass die sich ändernde und bewegende Welt vom Schöpfer als Abbild oder Gleichnis erschaffen wurde, dessen Original oder Vorbild das ewig unwandelbare Sein, das Seiende ist. Der Übergang vom Vorbild zum Abbild entspricht bei PARMENIDES dem Übergang vom Weg der Wahrheit zum Weg des Scheins, und das ähnelt wiederum dann der platonischen Philosophie mit dem Höhlengleichnis. Was wir wahrnehmen und als Leben sehen, ist nur ein Abbild der wirklichen höheren Existenz, von der wir nur Schatten auf den Wänden der Höhle wahrnehmen können. PARMENIDES wirkte in Elea (Süditalien) und gilt als Begründer der sogenannten eleatischen Schule. Sein Werk ist ein Lehrgedicht, das unter dem Titel „Über das Sein" bekannt geworden ist. Welch starken Einfluss PARMENIDES auf das Denken des Phi-losophen PLATON hatte, ergibt sich auch daraus, dass PLATON ihn in seinem Parmenides-Dialog als „unseren Vater Parmenides" bezeichnet.

PARMENIDES hat trotz seiner Skepsis in Bezug auf empirische Erkenntnis fünf astronomische Entdeckungen von großer Bedeutung gemacht: Der Mond ist eine Kugel, er erhält sein Licht von der Sonne. Das Zu- und Abnehmen des Mondes ist irreal, ein Spiel des Schattens. Der Abendstern und der Morgenstern sind identisch, die Gestalt der Erde ist kugelförmig. Trotz all dieser zutreffenden Erkenntnisse stellt sich Parmenides radikal gegen die Zuverlässigkeit der Beobachtung und der Sinneserfahrung. Und damit hat er, wie wir zwischenzeitlich wissen, auch in einigen Punkten Recht, weil unsere Sinneserfahrung jedenfalls unvollkommen ist. Wir sehen ja beispielsweise mit unseren Augen nicht, dass die Gegenstände nicht aus festgefügter Materie, sondern aus beweglichen Atomen oder gar Energie bestehen. POPPER spricht vom scheinbaren Anachronismus des PARMENIDES: Großartige auf Empirie beruhende Erkenntnisse, aber absolute Skepsis in Bezug auf die Zuverlässigkeit empirischer Erfahrung. Diese Gedanken des PARMENIDES, die er im Übrigen in poetischen Bildern dargestellt hat, nämlich, dass jede Bewegung ein trügerisches Spiel von Licht und Schatten, ein Spiel von Licht und Nacht ist, hat er mit folgenden Gedankengängen entwickelt:

Nur was ist, ist.
Das Nichts kann nicht sein.
Es gibt keinen leeren Raum;
Die Welt ist voll;
Da die Welt voll ist, gibt es keinen Raum für Bewegung und somit verwandelt
Bewegung und Wandel sind unmöglich.

Und seine Schüler und Nachfolger LEUKIPP und DEMOKRIT haben das umgekehrt und folgende Thesen vertreten:

Es gibt Bewegung;
wir wissen das aus Erfahrung; also ist die Welt nicht voll;
es gibt leeren Raum;
das Nichts, das Leere existiert.

Die Welt besteht - so PARMENIDES — aus dem Seienden, aus dem Harten, dem Vollen und dem Leeren. Man erinnert sich an SCHILLERS WALLENSTEIN: „Frei sind die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen". Seine weitere Erkenntnis: Die Welt besteht aus Atomen und dem Leeren. Diese Theorie ist dann die jetzige Grundlage für naturwissenschaftliche Entwicklungen (Atomismus) in den folgenden Jahrhunderten, in denen man dann allerdings sukzessive erkannt hat, dass das angeblich unteilbare (atomos) aufgespaltet werden kann und es (unendlich?) immer weitere kleine Teilchen, Ionen, Neutronen, Protonen, Alphateilchen etc. gibt (OTTO HAHN, NILS BOHR), in Wirklichkeit aber vielleicht letztlich doch nur Energie und Bewegung existiert.

7. Heraklit (544-480 v. Chr.)
Ganz im Gegensatz dazu stehen die Überlegungen von HERAKLIT. Er spricht gerade nicht vom unveränderlichen Sein, sondern von der nie nachlassenden ständigen Bewegung aller Dinge. HERAKLIT stammt aus Ephesos an der Ionischen Küste. Er sollte eigentlich seinem Vater im Amt des höchsten Opferpriesters der Stadt nachfolgen, hat aber zugunsten seines Bruders verzichtet und sich der Philosophie gewidmet. Manche bezeichnen ihn -ähnlich wie später SCHOPENHAUER—als Misanthropen, was seine folgenden Sätze nahelegen:

„Die meisten Menschen sind schlecht und nur wenige taugen etwas."
„Die meisten denken nur daran, sich wie die Herdentiere satt zu essen."

Seine skeptische Auffassung vom Menschen steht im Gegensatz zu derjenigen seines späteren großen Nachfolgers SOKRATES, der bekanntlich der Auffassung war, man müsse nur das Gute erkennen, um es zu tun. HERAKLIT, der als der Dunkle bekannt war, ist ja berühmt durch allen bekannten Satz: „Panta rhei". Alles fließt. Niemand kann mehrfach in den gleichen Fluss steigen. Er gilt als der Philosoph des Werdens. Die Philosophen aus Milet hatten einseitig den Stoff der Welt, beispielsweise das Wasser oder die Luft, als die entscheidenden Elemente dargestellt, die die Welt ausmachen, haben aber den Wechsel, das Werden nicht einbezogen.

Hier setzt HERAKLIT ein. Für das ewige Werden steht das Bild des Feuers. Alle Dinge entstehen durch Gegensätze: Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Sattheit und Hunger. Damit liefert HERAKLIT als erster ein Modell der dialektischen Entwicklungslehre und nimmt These und Antithese, wie sie später durch HEGEL und dann MARX weitergeführt worden ist, vorweg. Im Zentrum der Philosophie von HERAKLIT steht der Logos, wie es ja auch am Anfang der Bibel heißt: Am Anfang war der Logos, gemeinhin übersetzt mit: Am Anfang war das Wort, vielleicht aber richtiger übersetzt: Am Anfang war der Geist. Der Logos oder der Geist ist in der Philosophie des HERAKLIT inmitten aller Bewegung das einzig Unveränderliche, das, was „Die Welt im Innersten zusammen hält". Symbol für den Logos - dieser symbolisiert nach HERAKLIT das Gemeinsame im Gegensatz zum Subjektiven, Individuellen, beispielsweise dem Kosmos - ist nach Auffassung von HERAKLIT das Urfeuer, das zugleich das Göttliche ist. Die Seele soll ein Teil davon sein. Dieser Logos ist Maß und Notwendigkeit, der alles Geschehen nach strengen Gesetzen regelt. Damit hat HERAKLIT vorweggenommen, was wir heute als Naturgesetze (existieren diese nur im Denken oder real außerhalb unseres Gehirns?) bezeichnen.

Die Reihe der Vorsokratiker ließe sich weiter fortsetzen. Jedenfalls endet die vorsokratische Philosophie dann schließlich mit den berühmten und für die gesamte Menschheitsgeschichte überragend wichtigen Denkern SOKRATES, PLATON und ARISTOTELES. Gemeinsam ist jedenfalls den Vorsokratikern (wenn man vielleicht PARMENIDES ausnimmt) eines: Sie knüpfen ihre Gedanken an das, was sie zu erkennen glauben, sind also Empiriker. Die empirische Philosophie dürfte damit am Anfang des philosophischen Denkens im Abendland stehen, jedenfalls was die Erkenntnistheorie betrifft.

III. Die Blütezeit der griechischen Philosophie
1. Sokrates (470-399 v. Chr.)
Für SOKRATES - von keinem der griechischen Denker kann man mehr lernen - war der ethische Gesichtspunkt wesentlicher als Naturerkenntnis: Man spricht bei ihm von der anthropologischen Wende, weil es ihm nicht um die Materie und Erkenntnistheorie, sondern um den Menschen und dessen Wohl und Heil, also um Ethik, ging. Nach seiner Auffassung ist der Mensch von Natur aus gut und soll seinem Gewissen folgen.

SOKRATES war der Überzeugung, man müsse nur das Tugendhafte und Richtige erkennen und werde es dann auch tun, weil der Mensch grundsätzlich gut sei. Er müsse nur seinem Gewissen (daimonion) folgen. Seine Philosophie wird in dialogischen, argumentativen Formen entwickelt. Der Dialog selber wird auch von SOKRATES gleichsam als ein Lernprozess verstanden, mit dem er sich immer mehr der Wahrheit nähert. Dabei bleibt er sich immer der Tatsache bewusst, dass das Wissen begrenzt ist („Ich weiß, dass ich nichts weiß"). Jedoch tritt SOKRATES regelmäßig nicht als der Lehrende, sondern selbst als Fragender und Suchender auf. Er will nicht andere belehren, sondern von ihnen belehrt werden und nimmt sich selber stark zurück. Das wahre Ziel des Lebens ist nach SOKRATES das Wissen des Guten.

Seine Philosophie hat er auch konsequent gelebt. Denn - wie jedem bekannt - ist er ist seiner Hinrichtung durch den Schierlingsbecher nicht durch die Flucht entgangen, die ihm seine Schüler nahegelegt hatten. Ihm war es wichtiger, seine Überzeugungen auch zu leben, als den Tod zu vermeiden. Sein Denken und Handeln hat sein Schüler PLATON in der Apologie des SOKRATES, seiner Verteidigungsrede, festgehalten. Er stellt dort dar, dass die Athener SOKRATES neben Gottlosigkeit auch vorgeworfen haben, er verderbe die Jugend durch seine Gespräche mit jungen Bürgern aus Athen. Seinen Gefährten, die ihm zur Flucht verhelfen wollten, hielt er entgegen: Man wisse schließlich nicht, ob der Weg in den Tod die bessere Lösung sei als das Weiterleben. Und sein Gesprächspartner KRITON solle ja nicht vergessen, dem ASKLEPIOS den Hahn noch auszuhändigen, dem man ihm schulde.

2. Platon (428-348 v. Chr.)
An die Dialoge des SOKRATES anknüpfend hat PLATON (427-347) seine bekannte Ideenlehre entwickelt.

PLATON ist einer der bekanntesten und einflussreichsten Denker der gesamten Geistesgeschichte. Er hat in der Physik, in der Erkenntnistheorie, in der Ethik, aber auch in der Staatstheorie Maßstäbe gesetzt, die für die gesamte spätere Philosophie von größter Bedeutung sind.

Hinweis:
Es ist nicht möglich, im vorliegenden Zusammenhang ausführlich auf PLATON einzugehen. Ich möchte nur auf seine Ideenlehre verweisen, die er insbesondere im Höhlengleichnis entwickelt hat.

Die Ideen sind nach seiner Auffassung tatsächlich wahrhaft existierende Einheiten, nicht nur flüchtige Gedanken, sondern geistige Realitäten. Wir selber nehmen nur die Schatten wahr, die diese entscheidenden und unveränderlichen Realitäten sozusagen auf die Wand einer Höhle werfen. Im Höhlengleichnis beschreibt PLATON Menschen, die in einer unterirdischen Höhle von Kindheit an so fest gebunden sind, dass sie ihre Köpfe nicht bewegen können und immer nur auf die Höhlenwand schauen. Licht haben sie von einem Feuer, das hinter ihnen brennt, Zwischen dem Feuer und ihrem Rücken ist eine Mauer und hinter dieser Mauer werden Bilder und Gegenstände vorbeigetragen, die die Mauer überragen und Schatten an die Wand werfen. Die Gefangenen sehen nur die Schatten der Gegenstände. Das wahre Sein hinter ihnen ist mit den Sinnen nicht wahrnehmbar, hierauf muss sich aber das Denken richten. Die Ideenlehre war nicht nur von großem Einfluss auf die spätere deutsche idealistische Philosophie (z. B. auf KANT und seine Vorstellung vom „Ding an sich"), sondern vor allem auch auf GOETHE und SCHILLER, In einem Gespräch über Pflanzen und Betrachtung der Natur vertrat GOETHE die Auffassung, dass es eine Urgestalt der Pflanze real existierend gibt, auch wenn man sie nicht mit den Augen sehen kann, während SCHILLER das nicht als eine erfahrbare Tatsache, sondern als eine Idee bezeichnet hat. Für GOETHE war die Urpflanze eine Wirklichkeit, die nur mit geistigen Sinnen erfassbar war (ähnlich hat das später RUDOLF STEINER aufgegriffen). Das Urbild z. B. der Pflanze ist nach GOETHE und STEINER ein tatsächlich real existierendes, aber nicht mit den Augen erkennbares, sondern nur mit geistigen Sinnen wahrnehmbares Phänomen. Das entspricht der platonischen Ideenlehre,

3. Aristoteles (384-322 v. Chr.)
ARISTOTELES schließlich ist für die gesamte Entwicklung des Denkens von besonderer Bedeutung, weil er die Logik, die Lehre vom richtigen Denken, begründet hat. Und genau das ist es, was heute nicht mehr oder noch nicht verbreitet beherrscht und gelehrt wird. Deshalb hat HEIDEGGER recht: das Bedenklichste in unserer bedenklichen Zeit ist, dass wir - allerdings nicht nur noch nicht, sondern überhaupt nicht - denken. Dabei ist Logik weit wichtiger als die amorphe Ansammlung von Detailwissen. Was bedeutet Logik?

Sie garantiert nicht die Richtigkeit von Erkenntnissen. Sie bürgt lediglich dafür, dass aus richtig gewonnenen Erkenntnissen die richtigen Schlussfolgerungen gezogen werden, und dafür stellt sie ein bestimmtes Rüstzeug an Methodik zur Verfügung, nämlich das fehlerfreie Schließen von Obersätzen und Untersätzen auf Folgerungen. Die Sophisten haben diesen Denkvorgang der Deduktion wie folgt geschildert: Jede Definition geschieht dadurch, dass der Gattungsbegriff gesucht wird und dann die Besonderheit des Artbegriffes ins Auge gefasst wird (omnia definitio fit per genus proximum et differentiam specificam). Ein Beispiel: Dies ist ein Bleistift. Das ist ein Schreibwerkzeug (Gattungsbegriff) mit einer Graphitmine (früher: Blei), die (meist) in einen Holzschaft, einen Metall- oder Plastikschaft eingebettet ist (differentia specifica).

Der Einfluss von ARISTOTELES auf die gesamte Geistesgeschichte bis heute kann gar nicht überschätzt werden. Intensiv aufgegriffen hat beispielsweise das strenge logische System der wichtigste Denker des Mittelalters, THOMAS VON AQUIN in seinen Schriften. Auch er baut ein gesamtes Gedankengebäude auf einer streng logisch ausgerichteten Pyramide aller Seienden auf, an dessen Spitze Gott steht (summa theologica). Dieses Gebot begrifflicher Klarheit, das Voraussetzung für das Denken und damit auch für die Rechtswissenschaft und die juristische Praxis ist, kann nicht wichtig genug genommen werden. Das hat EGON SCHNEIDER in seiner „Logik für Juristen" (5. Aufl., S. 24) dankenswerter Weise klar herausgestellt. Gemeinsam mit ERNST WOLF gehört er zu der verdienstvollen Minderheit, die Fehlentwicklung und Schwächen im juristischen Denken bloß gelegt hat und seit Jahrzehnten durch eine nachvollziehbare logisch fundierte Methodik bekämpft. Er gehört zu den wenigen Außenseitern, die irrationale Rechtsfindung — das ist eine Zustandsbeschreibung weiter Bereiche unserer Rechtswirklichkeit — durch eine an der Logik orientierte klare Gedankenführung und präzise Sprache seit Jahrzehnten ins Bewusstsein gerückt haben. Damit steht er auch in der Tradition der griechischen Denker.

IV. Schlussbemerkung
Ich habe weitgehend auf Zitate verzichtet. Was ich zu den wichtigsten Denkern des alten Griechenland zusammengefasst habe, ist allgemein bekanntes Wissen. Die griechischen Philosophen haben vor teilweise über zweieinhalbtausend Jahren Gedanken entwickelt, die uns auch heute noch bewegen. Ihre naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, auch wenn diese in den folgenden Jahrhunderten und Jahrtausenden weiterentwickelt wurden, sind zum großen Teil frappierend richtig. Besonders wichtig ist aber die Methode des Herangehens an bestimmte Erscheinungen. Sie hat auch heute noch Bedeutung.

Wenn man beispielsweise an HERAKLIT denkt, der von der Veränderung spricht: Jede Erscheinung verändert sich und auch unser Denken verändert sich, ebenso unsere Erkenntnismöglichkeit. Nichts besitzt mehr Wirklichkeit als die Veränderung. Die Dinge sind nicht statisch, sondern Prozesse, die sich ständig entwickeln. Zu keinem Zeitpunkt- auch heute nicht- kann man davon ausgehen, dass der letzte Stand der Erkenntnis erreicht ist.

KARL POPPER beschreibt in seinem Werk „Die Welt des Parmenides", erstmals erschienen im Jahr 1998, die Lehre der Vorsokratiker wie folgt: Ein charakteristischer Wesenszug der griechischen Philosophie in dieser Zeit war, dass sie sich auffallend vom dogmatischen Schultyp unterscheidet. Gerade die Geschichte des Problems der Veränderung, die mit HERAKLIT angefangen hat, ist auch gleichzeitig die Geschichte einer kritischen Debatte einer rationalen Diskussion. Neue Ideen lässt man als solche gelten und sie entstehen als Ergebnis offener Kritik. Beispielsweise hat ANAXIMANDER die Philosophie von THALES kritisiert, der sein Meister und Verwandter war, einer der sieben Weisen, der Begründer der ionischen Schule. Der vierzehn Jahre jüngere ANAXIMANDER hat seine Ideen zu Lebzeiten seines Meisters entwickelt und der Umstand, dass er seinen Lehrer auf diese Weise kritisieren durfte, begründet - so POPPER - eine neue Tradition der Kritik und der Freiheit, eine undogmatische Geisteshaltung, die einen Bruch mit der bisherigen dogmatischen Tradition bedeutet. Diese hatte lediglich eine Schulmeinung erlaubt. An die Stelle der dogmatischen Tradition trat eine neue Tradition, die eine Vielfalt von Lehrmeinungen zuließ. Alle haben den Versuch unternommen, sich der Wahrheit mit den Mitteln der kritischen Diskussion anzunähern. Und genau das hat SOKRATES dann mit seinen Dialogen, die PLATON aufgezeichnet hat, fortgesetzt. Das ist auch für uns heute noch von Bedeutung: Unser Wissen und Denken setzt sich aus Vermutungen und nur teilweise aus unumstößlichen Beweisen zusammen, Es gibt kaum endgültige und sichere Wahrheiten. Kritik und kritische Diskussion sind unsere Hilfsmittel auf dem Weg der Annäherung zur Wahrheit.

Wir können -wie ich meine -von den alten Griechen für unser Denken Folgendes lernen: Die Tradition der kritischen Diskussion stellt den einzigen praktikablen Weg zur Erweiterung unseres Wissens dar. Sie erlaubt uns die kritische Prüfung in jeder Theorie, denn jede Theorie ist ja selbst nur Vermutung. Auf dieser Linie liegt auch der berühmte Satz von SOKRATES: „Ich weiß, dass ich nichts weiß" - „oida ouden eidos.". SOKRATES wollte damit nicht zum Ausdruck bringen, dass er überhaupt nichts weiß, sondern dass er sich als zunächst Nicht-Wissender einer Wahrheit nähert, um sie dann zu erkennen. Das bedeutet auch für die Rechtsanwendung: Ich bin bereit, jede meiner Theorien und Lösungen immer wieder infrage zu stellen und kritisch zu hinterfragen. Ich bleibe nicht bei dem stehen, was ich als Erkenntnis gewonnen zu haben glaube, sondern frage weiter und begreife mich selber als ein ständig Suchender. Jeder, der sich im Denken der altgriechischen Philosophie bewegt, ist bereit, seine Fehler infrage zu stellen und sich gerade auch in kritischer Diskussion weiterzuentwickeln. Das Denken der griechischen Philosophen und deren Lehren können dazu beitragen, dass wir erkenntnistheoretisch stets voran schreiten und niemals bei einem als sicher geglaubten Ergebnis stehen bleiben. Die griechischen Denker können uns dabei unterstützen, dass wir uns in Fragen der Ethik selber immer wieder kritisch hinterfragen und selbst erkennen („gnoti se auton": „Erkenne dich selbst").

Dieses gedanklich klare Hinterfragen und jede Schlussfolgerung auf ihre Stichhaltigkeit, jedes Ergebnis auf seine Plausibilität in der (Rechts-)Wissenschaft zu überprüfen, können wir nicht nur von den griechischen Philosophen, sondern auch von dem großen Rechtslehrer EGON SCHNEIDER lernen.