ZAP Kolumne 2011, Seite 707

ZAP Kolumne

Das vorläufige Ende der unendlichen Geschichte
Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof

Der Rechtsausschuss des Bundestages hat am 1. 7. 2011 nach Anhörung von Sachverständigen zu den verschiedenen vorgelegten Gesetzesentwürfen eine eigene Stellungnahme erarbeitet, über die der Bundestag am 7. 7. 2011 entschieden hat. Das neue Gesetz folgt im Wesentlichen dem Regierungsentwurf. Danach wird eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen Zurückweisungsbeschlüsse nach § 522 Abs. 2 ZPO eingeführt. Die in § 26 Nr. 8 EGZPO vorgesehene Grenze der Beschwer (über 20.000 €) wird fortgeschrieben bis zum Ende des Jahres 2014. Beschlüsse unterhalb dieser Beschwer sind also nach wie vor nicht angreifbar. Außerdem wird — dem Regierungsentwurf folgend —die zulassungsfreie Rechtsbeschwerde in Insolvenzsachen abgeschafft; insoweit sind Rechtsbeschwerden nur zulässig, wenn die Zulässigkeitsvoraussetzungen der §§ 574 bis 577 ZPO vorliegen. Schließlich enthält die Neuregelung eine sinnvolle Anpassung der Frist bei Restitutionsklagen nach § 580 ff. ZPO (Ausschluss der Fristregelung des § 586 Abs. 2 ZPO), wenn der Restitutionsgrund durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) festgestellt ist.

Anders als der Regierungsentwurf sieht die Neuregelung keine Verpflichtung des Berufungsgerichts zum Erlass des Zurückweisungsbeschlusses vor. Vielmehr wird jetzt das Ermessen des Gerichts eingeführt. Das Berufungsgericht „soll" die Berufung durch Beschluss unverzüglich zurückweisen, wenn es einstimmig davon überzeugt ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat und kein Zulassungsgrund vorliegt. Außerdem ist Voraussetzung, dass einstimmig festgestellt wird, dass eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist. Bisher war in der Formulierung unklar, worauf sich eigentlich die Einstimmigkeit beziehen musste.

Nunmehr ist — einer Anregung des Verfassers folgend — das Einstimmigkeitserfordernis zutreffend auf alle Voraussetzungen des Beschlusses nach § 522 Abs. 2 ZPO (Unbegründetheit der Berufung, Nichtvorliegen eines Zulassungsgrundes, keine Angemessenheit mündlicher Verhandlung) erstreckt worden.

Die Beschränkung auf „offensichtlich aussichtslose Berufungen" wird in der Begründung des Gesetzesentwurfs durch den Rechtsausschuss deutlich eingeschränkt: Offensichtlichkeit setzt danach nicht voraus, dass die Aussichtslosigkeit gewissermaßen auf der Hand liegt. Sie kann auch das Ergebnis gründlicher Prüfung sein. Man braucht keine prophetischen Gaben, um vorherzusagen, dass die Gerichte — gerade auf der Basis einer solchen Vorgabe —das Merkmal der offensichtlichen Aussichtslosigkeit kaum berechenbar unterschiedlich interpretieren werden. Damit gibt es ein neues Einfallstor für Unvorhersehbarkeit der gerichtlichen Entscheidungen und für weiteren Verlust von Rechtssicherheit.

Die Rechtslage verbessert die Position des Rechtssuchenden gegenüber dem bisherigen Zustand. Dennoch bleibt sie auf halbem Wege stehen. Die Abschaffung des § 522 Abs. 2 ZPO, wie dies SPD, Grüne und Linke vorgeschlagen hatten, wäre die klarere und bessere Lösung gewesen. Das nunmehr eingeräumte Ermessen des Gerichts für die Wahl des Verfahrens (Beschluss oder mündliche Verhandlung) könnte verfassungsrechtlich bedenklich sein. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung v. 1.10.2004 (1 BvR 173/04, NJW 2005, 659) festgehalten: Eine verfahrensrechtliche Vorschrift muss so abgefasst sein, dass ihre Anwendung voraussehbar ist. In diesem Zusammenhang geht es nicht nur um Rechtsmittelklarheit. Diese dürfte durch die Neuregelung mit Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde nicht gewährleistet sein. Es geht auch um die Vorausberechenbarkeit des gerichtlichen Verfahrens selber. Sie ist bei einer reinen Ermessensentscheidung über das Verfahren (mündliche Verhandlung ja oder nein) nach meiner Auffassung nicht gewährleistet. Niemand kann voraussehen, ob das Berufungsgericht sich für das Beschlussverfahren oder die mündliche Verhandlung entscheidet. Daran ändert auch die offenbar als zwingend gedachte Regelung nichts, dass von einem Beschlussverfahren abgesehen wird (oder werden soll?), wenn mündliche Verhandlung als geboten erscheint.

Dass es auch in der ZPO Verfahren mit freier Gestaltung durch den Richter gibt, beseitigt die verfassungsrechtlichen Zweifel nicht. Das Verfahren nach § 495a ZPO in Fällen von verschwindend kleinem Streitwert, bei denen das Gericht nach billigem Ermessen vorgehen kann, kann kaum von gravierender Bedeutung für die Parteien sein und deshalb in der Regel auch keine Grundrechte verletzen. Die jetzt eingeführte Sollvorschrift zu § 522 Abs. 2 ZPO kann aber in der Praxis dazu führen, dass in einem Bauprozess über 10 Mio. € § 522 Abs. 2 ZPO angewendet, im anderen dagegen mündlich verhandelt wird. Ob es wirklich mit Art. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG vereinbar ist, wenn in einem Fall die mündliche Verhandlung gewährt und im anderen genommen wird, kann man mit Fug und Recht bezweifeln. Die Vorausberechenbarkeit des Verfahrens verlangt, dass der Rechtssuchende sich darauf verlassen kann, in welchem Verfahrensmodus entschieden wird. Bei der bisherigen Regelung, bei der die Verpflichtung zur Anwendung des § 522 Abs. 2 ZPO bei Vorliegen der Voraussetzungen bestand, kann man jedenfalls in der Theorie diese Vorausberechenbarkeit noch annehmen. Bei einer reinen Ermessensentscheidung fehlt sie vollständig.

In jedem Fall wird die neue Regelung der Rechtszersplitterung nicht entgegenwirken. Auch wenn der BGH auf Nichtzulassungsbeschwerde eingreifen kann, wird es hier kaum einen Angleichungseffekt in der Praxis der Anwendung des § 522 Abs. 2 ZPO geben. Denn die Frage, ob die mündliche Verhandlung angemessen ist oder nicht und ob die Sollvorschrift überhaupt angewendet wird, ist eine Frage tatrichterlichen Ermessens, in die der BGH nicht eingreifen kann. Deshalb wird die Rechtszersplitterung durch den Regierungsentwurf auch nicht im Ansatz bekämpft, sondern zementiert und erweitert durch Einführung einer kaum nachprüfbaren Angemessenheitsklausel und des ebenfalls schwer fassbaren unbestimmten Begriffs der offensichtlichen Aussichtslosigkeit der Berufung.

Nach meiner Überzeugung wird es daher nach der Neuregelung dabei bleiben: Die Spreizung der Anwendung (5 % in Bremen, 6 % in Düsseldorf, 27 % in Rostock etc.) wird nicht nur aufrecht erhalten, sondern durch die Ermessensregelung und die Angemessenheitsklausel verstärkt. Gerade im Verfahrensrecht sind die Prozessbeteiligten und die Rechtssuchenden auf Vorausberechenbarkeit angewiesen. Die Aufrechterhaltung und Fortentwicklung des § 522 Abs. 2 ZPO durch die Neuregelung führt nicht zu klaren Verfahrenslagen. Auch die Neuregelung verfehlt die jahrzehntelangen vergeblichen Bestrebungen des Gesetzgebers, den Gerichten und gerichtlichen Entscheidungen ein bürgernahes Gesicht zu geben und damit für Akzeptanz der Justiz und Rechtsfrieden zu sorgen.

Von GOTTFRIED BENN stammt die Erkenntnis: „Kunst ist das Gegenteil von ,gut gemeint'". Ich fürchte, diese Erkenntnis gilt auch für die gut gemeinte gesetzliche Neuregelung des § 522 Abs. 2 ZPO. Roma locuta causa finita? Ich glaube: Nein. Das letzte Wort dürfte noch nicht für alle Zeiten gesprochen sein. Die ärgerliche Rechtszersplitterung, die § 522 Abs. 2 ZPO bewirkt hat und die die Neuregelung nicht beseitigt, wird eines Tages die Frage erneut aufwerfen, ob die Vorschrift nicht doch vollständig abgeschafft werden soll.