jurisPR-BGHZivilR 15/2011 Anm. 3

Schadensersatzanspruch des Bieters bei vergaberechtswidriger Ausschreibung ("Rettungsdienstleistungen II")
Anmerkung zu BGH 10. Zivilsenat, Urteil vom 09.06.2011 - X ZR 143/10
Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof

Leitsatz
Der auf Verstöße des öffentlichen Auftraggebers gegen Vergabevorschriften gestützte Schadensersatzanspruch des Bieters ist nach der Kodifikation der gewohnheitsrechtlichen Rechtsfigur der culpa in contrahendo durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz nicht mehr daran geknüpft, dass der klagende Bieter auf die Einhaltung dieser Regelungen durch den Auftraggeber vertraut hat, sondern es ist dafür auf die Verletzung von Rücksichtnahmepflichten durch Missachtung von Vergabevorschriften abzustellen (Weiterentwicklung von BGH, Urt. v. 08.09.1998 - X ZR 99/96 - BGHZ 139, 280, 283 und Urt. v. 27.11.2007 - X ZR 18/07 - VergabeR 2008, 219 Leitsatz 5).

A. Problemstellung
Bei der Vergabe von Dienstleistungen oder Bauaufträgen hat der öffentliche Auftraggeber die in den §§ 97 ff. GWB vorgesehenen Ausschreibungsgrundsätze zu beachten, zu denen insbesondere Transparenz der Ausschreibung und Gleichbehandlung der Bieter gehören. Die zitierten Vorschriften gelten unmittelbar nur für Vergaben über den sogenannten Schwellenwerten der Vergabeverordnung (bei Bauaufträgen: 4,845 Mio. Euro ohne Umsatzsteuer, für Lose solcher Aufträge: 1 Mio. Euro) unmittelbar. Sie enthalten aber allgemeine Grundsätze, die nach der Rechtsprechung des EuGH und des BGH vom öffentlichen Auftraggeber auch bei Unterschwellenvergaben berücksichtigt werden müssen (EuG, Urt. v. 20.05.2010 - T-258/06 - NZBau 2010, 510 „BRD ./. Europäische Kommission“).

Die hier besprochene Entscheidung befasst sich mit Konsequenzen einer vergabewidrigen Ausschreibung und daraus resultierenden Schadensersatzansprüchen eines beteiligten Bieters.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Eine Bieterin in einem für Rettungsdienstleistungen ausgeschriebenen Vergabeverfahren macht Rechtsanwaltskosten als Schadensersatz geltend. Ein vom Beklagten, einem öffentlichen Auftraggeber, durchgeführtes Vergabeverfahren war wegen Verwendung vergaberechtswidriger Wertungskriterien aufgehoben worden. Ein sächsischer Zweckverband, dem der öffentliche Rettungsdienst obliegt, hatte entsprechende Rettungsdienstleistungen ausgeschrieben.

Für Rettungsdienstleistungen hat der BGH bereits in der Entscheidung vom 01.12.2008 (X ZB 31/08) im Rahmen einer Divergenzvorlage (§ 124 Abs. 2 GWB) entschieden: Solche Rettungsdienstleistungen, bei denen der Leistungserbringer die ihm zustehende Vergütung ausschließlich und unmittelbar vom öffentlichen Auftraggeber erhält, müssen bei Erreichen des Schwellenwertes unter Berücksichtigung der Vergabevorschriften des GWB (§§ 97 ff. GWB) ausgeschrieben werden.

Auf die im offenen Verfahren ausgeschriebenen Rettungsdienstleistungen sollte der Zuschlag auf das wirtschaftlich günstigste Angebot erteilt werden. Die Vergabeunterlagen sahen jedoch Wirtschaftlichkeitskriterien mit jeweils zugeordneter Gewichtung vor, die teilweise mit Eignungskriterien der Bieter vermischt waren. Das beanstandete die Klägerin nach Einsicht in die Vergabeunterlagen. Sie hatte diese ihrem Prozessbevollmächtigten übermittelt, der die vergaberechtswidrige Vermischung von Eignungs- und Wirtschaftlichkeitskriterien in einem Schreiben an den öffentlichen Auftraggeber kritisiert hatte.

Im Nachprüfungsverfahren sprach das OLG Naumburg in einem Beschluss vom 03.09.2009 (1 Verg 4/09 - VergabeR 2009, 933) aus, dass der inzwischen mit einem anderen Bieter geschlossene Vertrag über die ausgeschriebenen Leistungen nichtig war. Das Oberlandesgericht verpflichtete den Beklagten, das Vergabeverfahren aufzuheben. Im Vergabeverfahren – so das OLG Naumburg – sei eine strikte Trennung einzuhalten zwischen Eignungskriterien, die sich auf die fachkundige Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit des Bieters, also auf Eigenschaften in der Person des Bieters beziehen, und sogenannten Wirtschaftlichkeitskriterien, die nur den Inhalt des Angebots selbst betreffen. Diese strikte Trennung sei in der Ausschreibung vernachlässigt worden. Das hatte nach der vorausgegangenen Entscheidung zur Folge, dass das Vergabeverfahren aufgehoben wurde (OLG Naumburg, Beschl. v. 03.09.2009 - 1 Verg 4/09 - VergabeR 2009, 933 m. Anm. Antweiler, VergabeR 2009, 961).

Der BGH hatte im Rahmen des nachfolgenden Schadensersatzprozesses im hier besprochenen Urteil die Frage zu prüfen, ob die vom Bieter geltend gemachten Anwaltskosten vom öffentlichen Auftraggeber in Folge der fehlerhaften Ausschreibung und deren Aufhebung zu erstatten waren.

Das Erstgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat den Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens aus dem Gesichtspunkt der culpa in contrahendo zugesprochen. Der BGH bestätigt die Auffassung des Berufungsgerichts und bejaht einen Schadensersatzanspruch aus §§ 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 Nr. 1 und 280 Abs. 1 BGB.

Die Auffassung der öffentlichen Hand, ein vorvertragliches Schuldverhältnis zum Bieter habe nicht bestanden, weil dieser nur an der Unterminierung des Vergabeverfahrens interessiert gewesen sei, weist der BGH zurück. Bei Überlassung der Unterlagen für ein Vergabeverfahren trifft den öffentlichen Auftraggeber – so der BGH – aus § 241 Abs. 2 BGB die Verpflichtung, die Unterlagen vergaberechtskonform auszuarbeiten. Es dürfen in diesem Zusammenhang keine Wirtschaftlichkeitskriterien aufgestellt werden, die eine ordnungsgemäße Wertung der Angebote nicht zulassen. Das gebietet die Rücksichtnahmepflicht der ausschreibenden Behörde. Die Verletzung dieser besonderen Pflicht zur Rücksichtnahme habe zur Folge, dass der Klägerin der dadurch entstandene Schaden zu ersetzen sei (§ 280 Abs. 1 Satz 1 BGB). Für den möglichen Einwand, dass der Schuldner die Verletzung dieser Rücknahmepflicht nicht zu vertreten hat, fehle es an Feststellungen (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB).

C. Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung des BGH erweitert die Rechte eines klagenden Bieters gegenüber dem öffentlichen Auftraggeber. Hatte der BGH noch durch Urteile vom 08.09.1998 (X ZR 99/96 - BGHZ 139, 280) und vom 27.11.2007 (X ZR 18/07 - VergabeR 2008, 219) Schadensersatzansprüche der Bieter in vergleichbaren Fallgestaltungen davon abhängig gemacht, dass ein Bieter in besonderer Weise auf die Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens vertraut hatte, hält der BGH in der neuen Entscheidung an dem tatbestandlichen Erfordernis eines solchen zusätzlichen Vertrauenselements nicht mehr fest. Schadensersatzansprüche, die auf ein vergaberechtliches Fehlverhalten des öffentlichen Auftraggebers vor Vertragsschluss zu stützen sind, werden vielmehr in der neuen Entscheidung begründet mit Verletzung der Rücksichtnahmepflicht des ausschreibenden öffentlichen Auftraggebers gegenüber dem Beteiligten, ohne dass es auf ein zusätzlich gewährtes Vertrauen des Bieters ankommt. Der BGH verweist auf die notwendig formale Gestaltung des Vergabeverfahrens. Das Vergaberecht ist durch die Besonderheit gekennzeichnet, dass der Ablauf der Vertragsverhandlungen – so der BGH – und die dem Auftraggeber dabei auferlegten Verhaltenspflichten eingehend geregelt sind. Oberhalb der gemäß § 2 VgV vorgesehenen Schwellenwerte gelten die Bestimmungen des 4. Teils des GWB. Für Vergaben oberhalb und unterhalb der Schwellenwerte sind die Vorschriften der VOB/A und VOL/A zu beachten. In jedem Fall aber hat der Bieter (auch bei der Unterschwellenvergabe) Anspruch darauf, dass die grundlegenden Regeln über das Vergabeverfahren und die daraus resultierenden Verhaltenspflichten vom Auftraggeber beachtet werden.

Der Schadensersatzanspruch, der auf das negative Interesse gerichtet ist, steht nicht nur dem Bieter zu, der bei regulärem Verlauf des Vergabeverfahrens den Zuschlag erhalten hätte. Eine solche Feststellung ist nur bei einem auf das positive Interesse gerichteten Schadensersatzanspruch erforderlich. Der BGH billigt in Folge dessen dem Bieter den Ersatz der entstandenen Anwaltskosten zu.

D. Auswirkungen für die Praxis
Die bieterfreundliche Entscheidung erleichtert die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen benachteiligter Bieter bei vergaberechtswidrigen Ausschreibungen. Sie liegt damit auf der Linie der Rechtsprechung des EuGH (Urt. v. 30.09.2010 - C-314/09 - VergabeR 2011, 71 „Strabag“). Diese Entscheidung hat zu den hier maßgebenden Richtlinien, nämlich Richtlinie 89/665 EWG des Rats vom 21.12.1989, in der Fassung der Richtlinie 92/50 EWG des Rats vom 18.06.1992 für Nachprüfungsverfahren bei Vergaben, Folgendes festgehalten:

Die Richtlinie steht einer nationalen Regelung entgegen, die den Schadensersatzanspruch wegen Verstoßes eines öffentlichen Auftraggebers gegen Vergaberecht von einer Schuldhaftigkeit des Verstoßes abhängig macht. Dabei kommt es – so der EuGH – auch nicht auf die Darlegungs- und Beweislast für das Verschulden an. Grundsätzlich sollen Bieter, die durch rechtswidrige Entscheidungen eines öffentlichen Auftraggebers geschädigt werden, den Anspruch auf Ersatz des daraus resultierenden Schadens verschuldensunabhängig erhalten. Das insoweit vorrangige Europäische Recht bewirkt: Anders als nach § 280 Abs. 1 BGB oder dem Rechtsinstitut der culpa in contrahendo ist Schadensersatz verschuldensunabhängig zuzusprechen. Das führt im Ergebnis – jedenfalls was das negative Interesse angeht – zu einer Art Garantiehaftung für die Richtigkeit der Entscheidung der Vergabestelle.

Ob und inwieweit die Europäische Rechtsprechung letztlich die Konsequenz mit sich bringt, dass der Anspruch auf das positive Interesse auch verschuldensunabhängig zuzusprechen ist (vgl. § 126 Satz 2 GWB), ob sich also (unter Aufgabe des Verschuldenselements in § 280 BGB) eine Art Garantiehaftung für die Richtigkeit der Entscheidungen der Vergabestelle etabliert, wird in der Zukunft noch zu klären sein (skeptisch Kaiser, VergabeR 2011, 76, Anm. zur vorbezeichneten Entscheidung des EuGH).

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Die bieterfreundliche Tendenz findet sich auch in weiteren Erwägungen des BGH: Einer besonderen Mahnung für den Eintritt des Verzuges bedarf es nach dem Rechtsgedanken des § 286 Abs. 2 Nr. 4 BGB nicht (der sofortige Eintritt des Verzuges ist also aus besonderen Gründen unter Abwägung der beiderseitigen Interessen gerechtfertigt), denn vorvertragliche Rücksichtnahmepflichten, wie sie hier zur Rede stehen, sind – so der BGH – aus in der Natur der Sache liegenden Gründen sofort zu erfüllen. Die Erstattung einer 2,3 Gebühr nach Nr. 2300 VV-RVG ist (unabhängig von der Frage, ob Vergaberechtsfälle grundsätzlich als besonders schwierig anzusehen sind, woran der BGH zweifelt) deshalb gerechtfertigt, weil es dem für den Bieter tätigen Rechtsanwalt obliegt, den unterbreiteten Sachverhalt, zu dem häufig umfangreiche Vergabeunterlagen gehören, rasch auf Vergabeverstöße hin zu prüfen und Rügen ggf. umgehend zu erheben.

Außerdem: Der BGH versagt dem beklagten Auftraggeber den Einwand, die fraglichen Anwaltskosten seien nur dann zu erstatten, wenn die ausschreibende öffentliche Hand sich vergaberechtskonform verhalten hätte. Der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens ist nur dann beachtlich, wenn die Zubilligung des Schadensersatzes mit dem Schutzzweck der verletzten Norm nicht vereinbar wäre (BGH, Urt. v. 24.10.1985 - IX ZR 91/84 - BGHZ 96, 157). Nach allgemeinen Grundsätzen trägt der Beklagte die Darlegungs- und Beweislast für den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens (BGH, Urt. v. 15.03.2005 - VI ZR 313/03 - NJW 2005, 1718). Der BGH vermisst hierzu entsprechende Darlegungen des Beklagten, stellt aber generell in Frage, ob der Vergabe im Wege eines vergaberechtswidrigen Wertungsschemas eine fiktive Alternativbetrachtung mit vergaberechtlich unbedenklichen Wertungskriterien gegenübergestellt werden kann.

Es handelt sich um eine außerordentlich wichtige, richtungsweisende Entscheidung des BGH, die die Rechte des Bieters stärkt und den prägenden Einfluss Europäischen Rechts auf nationale Regelungen verdeutlicht.