BRAK-Mitt. 6/2010, Seite VII

Leserbrief zu Wolf "Zwischen Effizienz und Akzeptanz – zur Reform der Berufungszurückweisung durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO"

Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof

In seinem Aufsatz über Reformbestrebungen zu § 522 Abs. 2 ZPO stellt Wolf die Behauptung auf, die Einführung einer Nichtzulassungsbeschwerde gegen die einstimmige Beschlusszurückweisung oder aber die Abschaffung dieser Vorschrift führe dazu, dass der BGH rund 1.600 Fälle pro Jahr zusätzlich zu erledigen habe. Er befürchtet eine Steigerung der Belastung von 35 %, die nur durch Einrichtung von vier weiteren Senaten aufgefangen werden könne.

Diese Folgerung beruht auf unzutreffenden Hypothesen. Wolf geht davon aus, dass im Jahr 2008 insgesamt etwas über 8.000 Fälle durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO entschieden worden sind. Dann legt er die Quote von 19,2 % zugrunde, mit der Urteile der Oberlandesgerichte mit Nichtzulassungsbeschwerden angegriffen werden. Auf diese Weise kommt er zur errechneten Belastung.

Die Hypothesen, auf denen diese Folgerungen beruhen, sind unrichtig oder unvollständig. Nach einer internen Statistik des Bundesjustizministeriums, die zwar nicht veröffentlicht, aber in der Podiumsdiskussion am 5.10.2010 durch den Abteilungsleiter des GVG/ZPO-Referats im BJM in Hamburg vorgestellt wurde (vgl. dazu Reinelt „Zurückweisung der Berufung durch Beschluss“, www.lto.de, Oktober 2010), erreichen nur ca. 4.000 Fälle die Statthaftigkeitsgrenze des § 26 Nr. 8 EGZPO. Wenn man auf diese Fälle die Quote von 19,2 % anlegt, die Wolf für die Einlegung von Nichtzulassungsbeschwerden ermittelt hat, ergibt dies zusätzlich 768 Fälle pro Jahr, die allenfalls zum BGH gelangen könnten (soweit die Filterfunktion der BGH-Anwälte diese Zahlen nicht noch einmal deutlich reduziert). Das würde für die gegenwärtig 13 Zivilsenate des BGH eine Zusatzbelastung von weniger als 60 Fällen pro Jahr oder knapp 5 Fällen pro Monat bedeuten. Nach der bisherigen Zulassungspraxis der Senate hätte das zur Folge, dass in weniger als einem zusätzlichen Fall pro Monat die Revision zugelassen und mündliche Verhandlung anberaumt würde.

Die vergleichende Statistik der letzten zehn Jahre in Bezug auf Eingänge von Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden beim BGH ergibt: Die Eingänge sinken kontinuierlich seit 2000 auch, aber nicht nur infolge der Zivilprozessreform mit der Einführung der Zulassungsrevision (im Jahr 2000: 4.440, im Jahr 2009: 3.192). Mit 768 zusätzlichen Fällen würde noch nicht einmal die Belastung des BGH aus den Jahren 2000-2002 erreicht. Damit erweist sich die Schlussfolgerung von Wolf, es müssten bei Einführung eines Rechtsmittels (in Abänderung von § 522 Abs. 3 ZPO) oder bei Abschaffung des § 522 Abs. 2 ZPO vier neue BGH-Senate geschaffen werden, als verfehlt.

Der von Wolf propagierte Vorschlag aus Hannover sieht vor, dass der Berufungsführer nach einem Hinweisbeschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO eine mündliche Verhandlung erzwingen kann. Er wird dann allerdings mit der Erhebung der doppelten Gerichtskosten (8,0-Gebühr statt 4,0-Gebühr nach GKG) bestraft, wenn nach der mündlichen Verhandlung sein Unterliegen durch Urteil entsprechend dem zuvor ergangenen Hinweis bestätigt wird. Ob eine solche Gebührensanktion sinnvoll ist, mag man bezweifeln. Selbstverständlich wird jede Partei, die Berufung eingelegt hat, von ihrem Recht auf Erzwingung der mündlichen Verhandlung Gebrauch machen, auch wenn sie mit erhöhten Gerichtskosten bedroht wird. Sonst würde sie ja das Eingeständnis abgeben, unüberlegt Berufung eingelegt zu haben. Der vorgeschlagene Zwischenschritt – Hinweisverfügung, Erzwingen der mündlichen Verhandlung und dann Endentscheidung mit anschließender Nichtzulassungsbeschwerde – ist kompliziert und überflüssig. Die bessere Alternative ist die Abschaffung des § 522 Abs. 2 ZPO (vgl. Reinelt, NJW-Editorial Heft 44/2010). Beide Vorschläge würden aber mit Sicherheit nicht zur Notwendigkeit der Einrichtung von vier neuen Senaten beim BGH führen.

Im Übrigen: Wenn man von vermeidbarer Mehrbelastung des BGH spricht, sollte man lieber darüber nachdenken, die systemwidrigen, durch das FamFG eingeführten zulassungsfreien Rechtsbeschwerden in Betreuungs-, Unterbringungs- und Freiheitsentziehungssachen (§ 70 Abs. 2 FamFG) nicht mehr dem BGH, sondern den Oberlandesgerichten zuzuweisen. Diese sind in Folge des Rückgangs von Eingängen und geänderter Regelungen in Gerichtsverfassung und Geschäftsverteilung (Übertragung auf den Einzelrichter, § 526 ZPO) in der Vergangenheit weit stärker entlastet worden (Reinelt, „Überlastung der Richter im Zivilprozess, ZAP-Kolumne 2010, 243).