ZAP Kolumne 2010, Seite 1083

ZAP Kolumne

Kurzer Prozess
Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof

Es gilt als Sakrileg und widerspricht allgemein anerkannter judicial correctness, am Dogma „Überlastung der Richter“ zu rütteln. Es mag sein, dass Richter am Amtsgericht und teilweise auch erstinstanzlich am Landgericht viel zu tun haben. In Berufungsverfahren sind aber Richter, gerade bei den Oberlandesgerichten wegen sinkender Eingangszahlen und wegen Änderungen in Gerichtsverfassung und Geschäftsverteilung (Übertragung auf Einzelrichter und Rechtspfleger) in den vergangenen Jahren sukzessive deutlich entlastet worden (vgl. Reinelt ZAP Kolumne „Überlastung der Richter im Zivilprozess?“, 2010, S. 243).

Einen neuen Weg zur Richterentlastung hat ein Senat eines Oberlandesgerichts im Nordosten der Republik beschritten. In erster Instanz hatte die Klägerin gegen die Eigentümerin des Nachbargrundstücks geklagt. Das Nachbarhaus war kommun angebaut und in erheblichem Maße baufällig. Die Klägerin wollte alle erforderlichen Vorkehrungen durchsetzen, damit in Folge der Baufälligkeit des Nachbarhauses ihr eigenes Haus nicht einstürzt. Das erstinstanzliche Gericht hat den Streitwert an dem von der Klägerin angegebenen Erhaltungswert ihres Hauses (46.000 €) orientiert. Die unter Sachverständigenbeweis gestellten Kosten für notwendige Sanierungsmaßnahmen für die „erforderlichen Vorkehrungen“ wurden von den Gerichten nicht ermittelt. Sie betragen nach Sachlage mehrere tausend Euro. Die Beklagte hat ihrerseits bestritten, dass ihr Haus einsturzgefährdet ist. In erster Instanz hat die Klägerin obsiegt: Die Beklagte wurde zu Sanierungsmaßnahmen verurteilt.

Das OLG hat die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen (§ 522 Abs. 1 S. 2 ZPO). Die Begründung: Der Gegenstandswert des Berufungsverfahrens und die Beschwer der Beklagten liegen höchstens bei 300 €. Schließlich – so das OLG – sei die Beklagte ja selbst der Meinung, ihr Haus sei in Ordnung und erfordere keine Sanierung.

Die beabsichtigte Wertfestsetzung war in einer Hinweisverfügung des Senats angekündigt worden. Diese ist allerdings nur der in erster Instanz siegreichen Klagepartei, nicht der unterlegenen Beklagtenpartei zugestellt worden.

Unter Hinweis auf diese der Beklagten nicht zugegangene Verfügung erging der Verwerfungsbeschluss (§ 522 Abs. 1 S. 2 + 3 ZPO, § 511 Abs. 1 Ziff. 2 ZPO).

Die Begründung des Gerichts beruht auf einem denkwürdigen, für die richterliche Praxis geradezu peinlichen Zirkelschluss. Der Syllogismus, der hier zugrunde liegt, hat nämlich vereinfacht folgende Gestalt:

Obersatz: Für die Beurteilung, ob die beklagte Partei durch ein Urteil beschwert ist oder nicht, ist ausschließlich maßgebend die Einlassung der Beklagten, dass solche (aufwendigen) Sanierungsmaßnahmen nicht erforderlich sind. Auf die Verurteilung zur Durchführung dieser Maßnahmen und den finanziellen Aufwand, der hierfür erforderlich ist, kommt es nicht an.

Untersatz: Die beklagte Partei hat bestritten, dass solche Sanierungsmaßnahmen überhaupt erforderlich sind.

Conclusio: Also ist die Beklagte, auch wenn sie zu genau beschriebenen (ziffernmäßig nicht festgestellten) Sanierungsmaßnahmen verurteilt wurde, nicht (jedenfalls nicht mit mehr als maximal 300 €) beschwert.

Dieser grobe Fehlschluss ist ein Zirkelschluss in Form des proton pseudos. Die falsche Voraussetzung im Obersatz ist nämlich evident abwegig. Für die Beschwer der Beklagten entscheidet nicht, wie hoch sie subjektiv entsprechende Sanierungsmaßnahmen bewertet (etwa mit Null), sondern die Verurteilung in solche Sanierungsmaßnahmen, die – wenn sie durchgeführt werden – einen wesentlich höheren Betrag notwendig machen. Diesen hat das Berufungsgericht ggf. zu ermitteln oder zu schätzen. Dass die Beklagte selbst eine Sanierung Ihres Hauses nicht für notwendig gehalten hat, ist für die Beschwer, der sie durch die Verurteilung unterliegt, nicht maßgebend.

Das betrübliche Bild der Entscheidung wird zusätzlich dadurch verdüstert, dass der Hinweis auf die beabsichtigte Wertfestsetzung (300 €) nur der Klagepartei, nicht der unterlegenen Beklagten zugestellt wurde. Gleichwohl stützt das OLG (unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG) die Begründung darauf, dass die Beklagte sich zu jenem Hinweis nicht geäußert hat.

So sieht also die neu geschaffene Justizentlastungsmaßnahme im Nordosten der Republik aus. Der Richter wird mit der Sache inhaltlich nicht beschäftigt, weil es ihm „gelingt“, die Berufung für unzulässig zu erklären (§ 522 Abs. 1 Ziff. 2 ZPO).

Dieser Weg der Entlastung der Richter am OLG führt allerdings im Ergebnis zu zusätzlicher Belastung der Justiz: Fünf Bundesrichter müssen sich mit der Rechtsbeschwerde befassen.

Es handelt sich im Übrigen nicht um einen Einzelfall: In einem weiteren vor demselben Senat anhängigen Nachbarstreit (Klage auf Beseitigung eines Überbaus) hat das OLG den Gegenstandswert des Verfahrens abweichend vom Erstgericht (24.000 €) auf bis zu 600 € festgesetzt. Damit konnte es wiederum die Berufung nach § 522 Abs. 1 S. 2 + 3 ZPO als unzulässig verwerfen.

Im Nordosten nichts Neues – kurzer Prozess.