jurisPR-BGHZivilR 8/2010 Anm. 4

Verfahrensrechtliche Auswirkungen von Berufsverstößen

Anmerkung zu BGH, Beschluss vom 22.02.2010, II ZB 8/09
Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof

Leitsatz
Wegen des eindeutigen, einer Auslegung nicht zugänglichen Wortlauts des § 155 Abs. 5 Satz 1 BRAO und des darin zum Ausdruck kommenden Willens des Gesetzgebers, aus Gründen der Rechtssicherheit Rechtshandlungen eines Rechtsanwalts auch dann als wirksam zu behandeln, wenn der Rechtsanwalt damit einem ihm gegenüber verhängten Berufsverbot zuwiderhandelt, muss - ungeachtet der damit verbundenen, den Rechtsanwalt unbillig begünstigenden Rechtsfolgen - auch die fristgerechte Einlegung der Berufung durch einen sich selbst vertretenden Rechtsanwalt, der in Kenntnis des gegen ihn verhängten Berufsverbots und unter Verstoß gegen § 155 Abs. 2 i.V.m. § 155 Abs. 4 letzter Halbsatz BRAO, als fristwahrende, wirksame Berufung behandelt werden.

A. Problemstellung
Die Frage, ob Verstöße gegen berufsrechtliche Verbote verfahrensrechtliche Auswirkungen haben, lässt sich nicht generell beantworten (vgl. Reinelt, ZAP Kolumne 2008, 179 „Verstöße gegen anwaltliches Berufsrecht und Rechtsfolgen“, sowie Deckenbrock, AnwBl 2010, 221). Wenn lediglich gegen Vorschriften der Berufsordnung verstoßen wird, können verfahrensrechtliche Auswirkungen nicht unmittelbar eintreten. Denn die Zuständigkeit der Satzungsversammlung, die das Berufsrecht beschließt, bezieht sich nur auf die Konkretisierung beruflicher Rechte und Pflichten (§ 59b BRAO).

Es ist aber durchaus möglich, dass sich Berufsverstöße letztlich materiell-rechtlich auf die Wirksamkeit von Rechtsgeschäften und verfahrensrechtlich mittelbar auf die Wirksamkeit von Prozesshandlungen auswirken. Die Frage kann aber nur anhand des einzelnen Verstoßes entschieden werden.

In der vorliegenden Entscheidung hat sich der BGH mit der Auslegung des § 155 BRAO befasst: Hat es verfahrensrechtliche Auswirkungen, wenn der Rechtsanwalt entgegen einem ihm gegenüber verhängten Berufsverbot Prozesserklärungen abgibt?

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger – Rechtsanwalt – beantragte gegen den beklagten Verein, dem er angehört, Feststellung der Unwirksamkeit seines eigenen Ausschlusses aus dem Verein. Zunächst erging ein Versäumnisurteil gegen den Kläger. Dagegen legte er fristgerecht Einspruch ein. In seinem Endurteil hat das AG Berlin-Charlottenburg das klageabweisende Versäumnisurteil aufrechterhalten und die weiter gehende Klage abgewiesen. Gegen das Endurteil legte der Kläger Berufung ein und beantragte die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist. Innerhalb verlängerter Berufungsbegründungsfrist begründete die postulationsfähige Rechtsanwältin die Berufung beim LG Berlin.

Erst jetzt stellte sich im Verfahren heraus, dass der Kläger nach Einleitung des erstinstanzlichen Verfahrens, aber vor Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung mit einem Berufsverbot belegt worden ist.

Das Berufungsgericht hat daraufhin die Berufung nach § 522 Abs. 1 ZPO verworfen. Die (an sich rechtzeitig) bei Gericht eingegangene Berufungsschrift habe die Frist nicht gewahrt, weil der Kläger wegen des Berufsverbots die Berufung nicht wirksam habe einlegen können.

Dagegen hat sich der Kläger mit seiner – von einem beim BGH zugelassenen Rechtsanwalt eingelegten und begründeten – Rechtsbeschwerde gewandt.

Der BGH hält die Rechtsbeschwerde für zulässig und begründet. Der Statthaftigkeit dieser Beschwerde steht gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO nicht entgegen, dass die Wertgrenze des § 26 Nr. 8 EGZPO nicht erreicht ist (BGH, Beschl. v. 21.05.2003 - VIII ZB 133/02 - NJW-RR 2003, 1580). Der Umstand, dass der Streitwert nicht über 20.000 € liegt, berührt die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde nicht. § 26 Nr. 8 EGZPO führt eine entsprechende Grenze lediglich für Nichtzulassungsbeschwerden, nicht für Rechtsbeschwerden ein. Im Übrigen gilt die Vorschrift nicht, wenn eine Berufung verworfen worden ist (§ 26 Nr. 8 Satz 2 EGZPO).

Die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde nach § 574 Abs. 2 Alt. 2 ZPO (Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung) bejaht der II. Senat unter Hinweis darauf, dass die angegriffene Entscheidung den Kläger in seinem Verfahrensgrundrecht auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes verletzt (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip). Dieses Verfahrensgrundrecht verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz unzumutbar zu erschweren (BFH, Beschl. v. 04.07.2002 - V ZB 16/02 - BGHZ 151, 221, 227 m.w.N.).

Der BGH hat die angegriffene Entscheidung aufgehoben und zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO).

Der BGH hält die Rechtsbeschwerde auch für begründet:

Bei Erhebung der Klage war ein Berufsverbot gegen den Kläger nicht verhängt. Er hat in eigener Sache wirksam Klage erhoben. Der Prozess wird durch die Verhängung des Berufsverbots nicht unterbrochen. § 244 Abs. 1 ZPO, der den Anwaltsprozess – nicht das Verfahren vor dem Amtsgericht – betrifft, findet auch bei Anwaltsvertretung im Parteiprozess keine Anwendung (BGH, Beschl. v. 18.09.1991 - XII ZB 51/91 - FamRZ 1992, 48, 49; Musielak in: Musielak, ZPO, 7. Aufl., § 244 Rn. 1 m.w.N.).

Im Berufungsverfahren, das dem Anwaltszwang unterliegt (§ 78 Abs. 1 ZPO), gilt zwar grundsätzlich § 244 ZPO auch für den sich selbst vertretenden Rechtsanwalt (§ 78 Abs. 6 ZPO), dies allerdings nur dann, wenn bei „Anwaltsverlust“ schon Berufung eingelegt worden war (BGH, Urt. v. 18.09.1991 a.a.O.).

Die entscheidende Frage, die der BGH zu beantworten hat, betrifft die Auslegung des § 155 BRAO. Die Vorschrift besagt, dass der Rechtsanwalt, gegen den ein Berufsverbot verhängt ist, mit der Verkündung des entsprechenden Beschlusses seinen Beruf nicht mehr ausüben darf. Nach Abs. 3 dieser Vorschrift darf er nicht als Vertreter oder Beistand vor Gericht auftreten oder Vollmacht oder Untervollmacht erteilen.
Eine Einschränkung enthält jedoch § 155 Abs. 4 BRAO für eigene Angelegenheiten: Im Parteiprozess kann er weiter agieren, nicht jedoch im Anwaltsprozess. Wie wirken sich diese Regelungen auf die Frage aus, ob der mit Berufsverbot belegte Anwalt wirksam Berufung einlegen konnte?

§ 155 BRAO enthält in den Absätzen 1-4 nur berufsrechtliche Regelungen. Was die Postulationsfähigkeit angeht, bestimmt aber § 155 Abs. 5 BRAO: Die Wirksamkeit von Rechtshandlungen wird durch das Berufs- oder Vertretungsverbot nicht berührt.

Das Gesetz geht also davon aus, dass das Berufsverbot nicht auf die Postulationsfähigkeit und damit auf die Rechtswirksamkeit der Prozesshandlungen durchschlägt. Nach dem deutlich zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers soll, so der BGH, Verfahrenshandlungen des Rechtsanwalts trotz des Berufsverbots die Wirksamkeit nicht genommen werden. Das gebietet die Rechtssicherheit.

Der Senat hält, wie die Begründung deutlich macht, das Ergebnis – Wirksamkeit der Prozesshandlungen des mit Berufsverbot belegten Anwalts – zwar für bedenklich, sieht jedoch angesichts des eindeutig einer Auslegung nicht zugänglichen Wortlauts in § 155 Abs. 5 Satz 1 BRAO keine andere Interpretationsmöglichkeit. Die Einlegung der Berufung durch den mit Berufsverbot belegten Rechtsanwalt war daher wirksam, die Rechtsbeschwerde deshalb erfolgreich.

C. Kontext der Entscheidung
Angesichts der klaren Regelung des § 155 Abs. 5 BRAO konnte die Entscheidung nicht anders ausfallen. Überraschend ist nur, dass das LG Berlin als Beschwerdegericht bei seiner gegenteiligen Entscheidung die Vorschrift offensichtlich übersehen hat.
Man kann dieser Vorschrift den generellen Rechtsgrundsatz entnehmen: Berufs- oder Vertretungsverbote, die die Anwaltsgerichtsbarkeit nach § 150 BRAO verhängt, tangieren die Postulationsfähigkeit und damit die Wirksamkeit von Verfahrenshandlungen des betroffenen Anwalts nicht. Damit ist die Frage aber nicht generell beantwortet, inwieweit im Übrigen Berufsverstöße zur Unwirksamkeit von Prozesshandlungen des betroffenen Anwalts führen.

D. Auswirkungen für die Praxis
Wenn es nicht um verhängte Berufsverbote geht – insoweit ist die Rechtslage klar –, sondern um sonstige Verstöße gegen berufsrechtliche Regelungen, ist in jedem einzelnen Fall zu prüfen, von welchem Gewicht der Berufsverstoß ist, um materiell-rechtliche oder verfahrensrechtliche Wirkungen festzustellen.

Wer etwa unter Umgehung des Gegenanwalts (Verstoß gegen § 12 BRAO) mit der Gegenpartei unmittelbar vertragliche Vereinbarungen schließt, handelt zwar berufswidrig. Eine gleichwohl abgeschlossene Vereinbarung ist aber materiell-rechtlich wirksam (BGH, Urt. v. 17.10.2003 - V ZR 429/02 - NJW 2003, 3692).

Wie wirkt sich aber beispielsweise ein Verstoß gegen das Verbot der Wahrnehmung widerstreitender Interessen aus, der im Falle des Vorsatzes ja auch als Prävarikation strafrechtlich sanktioniert ist (§ 356 StGB)? § 43a BRAO, der dem Rechtsanwalt in Abs. 4 die Vertretung widerstreitender Interessen verbietet, gehört zu den zentralen Vorschriften berufsrechtlicher Regelungen. Hat ein – gegebenenfalls sogar strafrechtlich sanktionierter – Verstoß gegen dieses gravierende Verbot Auswirkungen auf den zu Grunde liegenden Anwaltsvertrag, die Vollmacht des Anwalts und auf dessen Prozesshandlungen?

Nach herrschender Meinung führt Zuwiderhandeln gegen dieses Verbot zur Unwirksamkeit des entsprechenden Anwaltsvertrags (Verstoß gegen § 134 BGB; Heinrichs in: Palandt, BGB, 69. Aufl. 2010, § 134 Rn. 20 „Rechtsanwälte“). Der BGH hat jedoch – auch dies im Interesse der Rechtssicherheit und Verfahrensklarheit – entschieden: Ein Verstoß des Rechtsanwalts gegen § 43 Abs. 4 BRAO (Vertretung widerstreitender Interessen) berührt nicht die Wirksamkeit der ihm erteilten Prozessvollmacht und der von ihm namens der Partei vorgenommenen Prozesshandlungen (BGH, Urt. v. 14.05.2009 - IX ZR 60/08 - NJW-RR 2010, 67). Der Anwaltsvertrag ist zwar nichtig. Die Verfahrenshandlungen bleiben jedoch wirksam. Das Bedürfnis, Mandanten vor ungeeigneten Rechtsvertretern zu schützen, wird durch die Behandlung der Prozessvollmacht als wirksam nach Auffassung des IX. Senats nicht berührt. Auch der V. Senat hat für einen Verstoß gegen § 45 Abs. 1 Ziff. 4 BRAO (Berufsverbot wegen anderweitiger Befassung) an der Wirksamkeit der Rechtshandlungen des Rechtsanwalts festgehalten (BGH, Urt. v. 19.03.1993 - V ZR 36/92 - NJW 1993, 1926).

Man wird also generell festhalten können: Berufsrechtliche Verstöße werden in vielen Fällen – je nach Gewicht des Berufsverbots – materiell-rechtliche Auswirkungen haben (§§ 134, 138 BGB). Dagegen bleibt in der Regel wegen der Abstraktheit der Vollmacht und der Notwendigkeit des Verkehrsschutzes die Wirksamkeit von Prozesshandlungen eines sich berufswidrig verhaltenden Rechtsanwalts unberührt.