ZAP Kolumne 2010, Seite 243

ZAP Kolumne

Überlastung der Richter im Zivilprozess?
Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof

Überalterung des Rechts beklagend bestärkt Mephisto — in Fausts langem Kleide—einen Schüler, vom Studium der Rechte abzusehen:

„Es erben sich Gesetz' und Rechte
Wie eine ew'ge Krankheit fort;
Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte,
und rücken sacht von Ort zu Ort...."

Ein ähnlich zähes Leben hat auch die Mär von der Überlastung der Richter.

Sind Richter im Zivilrecht, wie allenthalben unentwegt beklagt wird, tatsächlich überlastet? Ich meine, sie sind es nicht. Dafür gibt es im Wesentlichen drei Gründe:

• Seit Jahren sinken kontinuierlich die Eingangs- und Erledigungszahlen in Zivilprozessen bei Landgerichten, Oberlandesgerichten und - allerdings in geringerem Maß - dem Bundesgerichtshof.
• Unabhängig von dieser aus der Statistik erkennbaren Entwicklung sind Richter in erheblichem Umfang durch Änderungen von Gerichtsverfassung und Geschäftsverteilung (Übertragung auf Einzelrichter und Rechtspfleger) entlastet worden.
• Einen relevanten Personalabbau von Richterstellen gibt es per Saldo nicht.

Im Einzelnen:

Die allgemein zugänglichen Statistiken des Statistischen Bundesamts zeigen den Rückgang von Eingängen und Erledigungen bei den Landgerichten, den Oberlandesgerichten und auch dem Bundesgerichtshof. So sind etwa die Erledigungen bei den Landgerichten von 2003 bis 2007 von rund 74.500 auf ca. 61.300 kontinuierlich gesunken. Bei den Oberlandesgerichten ergibt sich ein Rückgang im gleichen Zeitraum von etwa 61.000 auf 54.000 Erledigungen. Gleichzeitig steigt der darin enthaltene Anteil an Beschlüssen nach § 522 Abs. 2 ZPO deutlich an. Verstärkt wird die Entlastung der Richter durch Regelungen in Gerichtsverfassung und Geschäftsverteilung. Das schlägt sich in den Statistiken gar nicht nieder. Von erheblicher Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die grundsätzliche Übertragung des Zivilrechtsstreits auf den Einzelrichter. Beim Landgericht entscheidet - im Gegensatz zum früher herrschenden Kollegialprinzip - originär im Regelfall der Einzelrichter anstelle der Zivilkammer (§ 348 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 ZPO). Das ZPO-Reformgesetz vom 27. 7.2001 (BGBl. I, S.1887) führt mit Wirkung vom 1. 1. 2002 die Möglichkeit der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter auch im Berufungsverfahren ein (§ 526 ZPO). Die Verringerung der Erledigungszahlen und die zunehmende Übertragung von Rechtsstreitigkeiten auf den Einzelrichter führen zu einer massiven Entlastung der Justiz im Zivilprozess. Ein weiterer deutlicher Entlastungseffekt — der wiederum nicht in Statistiken erscheint - ergibt sich daraus, dass Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit zunehmend vom Richter auf den Rechtspfleger übertragen worden sind. Zudem sind Rechtswege verkürzt und Aufgabenstellungen sukzessive erleichtert worden (§§ 495a, 540 ZPO). Die geschilderten Entlastungseffekte kommen dem Bundesgerichtshof allerdings nicht zu Gute. Dessen Belastung ist - wie der BGH - Präsident TOLKSDORF anlässlich der Jahrespressekonferenz erklärt hat (ZAP Anwaltsmagazin: 2010, S. 150) - nahezu unverändert geblieben. Hier bahnt sich eine zusätzliche Belastung an durch zulassungsfreie Rechtsbeschwerden nach dem FamFG.

Bei einer Gesamtbetrachtung sind Stellen von zivilrechtlichen Richterpositionen auch nicht reduziert worden. Im Gegenteil: Die Justizhaushalte stocken auf, so etwa in Niedersachsen, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Thüringen und Berlin in den Jahren 2009 und 2010. In Niedersachsen sind beispielsweise zwischen 2003 und 2009 insgesamt 133 zusätzliche Richterstellen geschaffen worden.

Dass in der Vergangenheit bei einzelnen Gerichten auch Richterstellen abgebaut worden sein mögen, fällt im Ergebnis nicht relevant ins Gewicht, weil dafür personelle Verstärkungen an anderer Stelle vorgenommen worden sind, etwa im Zusammenhang mit der Erhöhung von Streitwerten und der damit verbundenen Aufwertung der Tätigkeit der Amtsgerichte. Faktisch handelt es sich also um eine strukturelle Umschichtung von mindestens gleichbleibenden Ressourcen. Im Ergebnis jedenfalls kann man daher nicht von Personalabbau in der Justiz, sondern nur von Umschichtungen sprechen. Eine vermeidbare, hausgemachte Belastung der Richter resultiert daraus, dass nach dem alten Humboldt'schen Universalprinzip der Bildung Richter ungeachtet der heute unerlässlichen Spezialisierung nicht nur zwischen Richtertätigkeit und Staatsanwaltschaft wechseln müssen, sondern auch als Zivilrichter in die unterschiedlichsten Referate versetzt werden. Dort müssen sie sich lange Zeit einarbeiten und sind meist den erfahrenen Fachanwälten jedenfalls zunächst in Bezug auf Können und Kenntnisse unterlegen. Das Rotationsprinzip ist heute nicht mehr zeitgemäß.

Die Behauptung, die Richter der Tatsacheninstanzen in Zivilprozessen seien ständig überlastet, stimmt heute weniger denn je. Es gibt OLG-Richter, die unter der Hand einräumen, ihre Dienstaufgaben halbtags erledigen zu können. Es mag sein, dass die Situation der Sozialgerichte (vielleicht auch der Arbeitsgerichte) anders zu beurteilen ist als die der Zivilgerichte. Hier ist als Folge der aktuellen Ausgestaltung sozialstaatlicher Regelungen unvermeidlich eine Überlastung eingetreten. Für die Zivilgerichte gilt dies nicht.

Dieser Befund ändert nichts daran, dass die Mär von der Überlastung der Zivilrichter seit Jahrzehnten unverändert verkündet und verbreitet wird. Die treuherzige Beschwörung der Überlastung des Richters im Zivilprozess gehört offensichtlich zur „judicial correctness". Wer sie infrage stellt, wird in die Ecke der Leugner geschoben. Hier gilt im juristischen Bereich nichts Anderes als im allgemein gesellschaftlichen oder politischen, in dem die „political correctness" ihr Unwesen treibt: Wer z. B. anthropogene, wesentliche Klimaveränderungen in Folge vermehrten CO2-Ausstoßes infrage stellt, gehört zu den Leugnern der Klimakatastrophe. Wer Fehlentwicklungen des Sozialstaats in der Bundesrepublik zum Anlass für eine Grundsatzdebatte nehmen will, wird polemisch bekämpft oder lächerlich gemacht. Wer die seit Jahrzehnten etablierte Einstein´sche Relativitätstheorie mit begründeten Argumenten kritisch hinterfragt, gehört zu der abzuqualifizierenden Gruppe der Leugner einer vorgeblich unbestreitbaren wissenschaftlichen Wahrheit.

Leugnen bedeutet: Eine wissenschaftlich belegte Wahrheit entgegen besserer eigener Erkenntnis zu bestreiten. Das geschieht aber weder in den geschilderten Beispielen, wenn abweichende Auffassungen begründet vertreten werden, noch dann, wenn man die Überlastung der Justiz infrage stellt. Freilich gilt es als Sakrileg, an allgemein als unumstößlich geltenden „Wahrheiten" zu zweifeln. Tröstlich ist aber: Eine Überlastung der Justiz im Zivilprozess zu „leugnen", ist bislang noch nicht strafbar.