jurisPR-BGHZivilR 6/2010 Anm. 2

Wiedereinsetzung und Hinweispflicht nach § 139 ZPO

Anmerkung zu BGH, Beschluss vom 09.02.2010, XI ZB 34/09
Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof  

Leitsatz:
Zur Hinweispflicht des Gerichts, wenn dieses das Vorbringen in einem Wiedereinsetzungsgesuch (hier: genaue Umstände des Posteinwurfs der Berufungsschrift) als ergänzungsbedürftig ansieht.

A. Problemstellung
Während der BGH im Beschluss vom 02.02.2010 (VI ZB 58/09, dazu Reinelt, jurisPR-BGHZivilR 6/2010 Anm. 1, in dieser Ausgabe) zum Empfangsbekenntnis eine außerordentlich strikte Linie verfolgt, gehört die Entscheidung zur Wiedereinsetzung und Hinweispflicht nach § 139 ZPO in die Reihe der anwaltsfreundlicheren Beschlüsse. Hier erleichtert der XI. Zivilsenat die Wiedereinsetzung mit Rücksicht auf die Hinweispflicht des § 139 ZPO.

Die umfangreiche Kasuistik zur Wiedereinsetzung ergänzt der Beschluss des BGH vom 09.02.2010 durch einen wichtigen Gesichtspunkt: Wann und in welchem Umfang muss der Richter ggf. auf eine Präzisierung des Vortrags im Wiedereinsetzungsgesuch hinweisen (§ 139 ZPO, Art. 103 Abs. 1 GG)?

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Das erstinstanzliche Landgericht weist eine Klage auf Schadensersatz im Zusammenhang mit der Beteiligung an einer stillen Gesellschaft ab. Dagegen legt die Klägerin mit einem verspätet eingehenden Schriftsatz Berufung ein. Nach dem Hinweis des Berufungsgerichts auf die Verspätung der Berufung wird rechtzeitig Wiedereinsetzung beantragt.

Zur Begründung trägt die Klägerin vor: Der Prozessbevollmächtigte habe die Berufungsschrift rechtzeitig am Tage vor Ablauf der Berufungsfrist zur Post bringen und in den Briefkasten einwerfen lassen. Der Briefkasten werde an diesem Tag um 20:45 Uhr geleert, der Prozessbevollmächtigte habe davon ausgehen dürfen, dass die Berufungsschrift beim Berufungsgericht spätestens am nächsten Werktag eingehen werde.

Der Wiedereinsetzungsantrag wird vom Berufungsgericht zurückgewiesen, die Berufung als unzulässig verworfen. Zur Begründung führt das Berufungsgericht aus: Die Klägerin habe nicht substantiiert dargelegt, dass die Berufungsschrift rechtzeitig zur Post gegeben worden sei. Sein Vorbringen erschöpfe sich in einer allgemeinen Schilderung. Es gebe keine nachvollziehbaren Angaben zur Postausgangskontrolle des Prozessbevollmächtigten, und es fehle eine genaue Darlegung, welche Person welche Post „ausgefächert“, kuvertiert, eingepackt und zum Briefkasten gebracht habe.

Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin hebt der BGH den angefochtenen Beschluss auf. Er bejaht die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde mit Hinweis darauf, dass die Entscheidung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich sei (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Nach Auffassung des BGH verletzt die angefochtene Entscheidung die Verfahrensgrundrechte der Klägerin auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Sie stehe auch nicht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des BGH.

Verzögerungen der Briefbeförderung oder Briefzustellung durch die Deutsche Post AG seien der Klagepartei oder ihrem Prozessbevollmächtigten nicht als Verschulden anzurechnen. Vielmehr könne man davon ausgehen, dass ein rechtzeitig und ordnungsgemäß aufgegebenes Schriftstück auch grundsätzlich am folgenden Werktag ausgeliefert werde. Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH können und müssen erkennbar unklare oder ergänzungsbedürftige Angaben, deren Aufklärung nach § 139 ZPO geboten gewesen wäre, noch nach Fristlablauf erläutert und vervollständigt werden (BGH, Beschl. v. 13.06.2007 - XII ZB 232/06 - NJW 2007, 3212 Rn. 8, und BGH, Beschl. v. 03.04.2008 - I ZB 73/07 - GRUR 2008, 837 Rn. 12).

Gemessen an diesen Grundsätzen hätte das Berufungsgericht den Klägern Gelegenheit zur Ergänzung des Vorbringens im Wiedereinsetzungsantrag zu den Umständen des Posteinwurfs geben müssen. Nach dem Vortrag habe sich dem Berufungsgericht aufdrängen müssen, dass Einzelheiten zum Posteinwurf nicht vorgetragen wurden, weil das ersichtlich aus der Sicht des Klägers und seines Prozessbevollmächtigten nicht notwendig war. In einem solchen Fall müsse ein Hinweis nach § 139 ZPO auf möglicherweise fehlenden Vortrag zur konkreten Person und zur genauen Uhrzeit des Briefeinwurfs erfolgen, um dem Prozessbevollmächtigten des Klägers Gelegenheit zur Ergänzung des Vorbringens im Wiedereinsetzungsantrag zu geben. Auf dieser Unterlassung und daraus resultierenden Verletzung von Verfahrensgrundrechten des Klägers beruhe die fehlerhafte Entscheidung.

Der BGH gibt der Wiedereinsetzung wegen dieser Rechtsverletzung nach § 577 Abs. 5 Satz 1 ZPO selber statt.

C. Kontext der Entscheidung
Mit Recht prüft der XI. Zivilsenat im Zusammenhang mit dem Wiedereinsetzungsgesuch, ob der Fall Anlass bot, einen richterlichen Hinweis zu geben und dem Prozessbevollmächtigten, der Wiedereinsetzung beantragt, auf Grund eines solchen Hinweises die Möglichkeit zu verschaffen, seinen aus der Sicht des Tatsachengerichts möglicherweise unvollständigen Sachvortrag zu ergänzen. Wenn – wie hier – der Kläger, der Wiedereinsetzung begehrt, keinen Anlass sehen muss, seinen Vortrag von vornherein um weitere Details zu ergänzen, darf er nicht verfahrenswidrig wegen angeblicher Unvollständigkeit seines Vortrags erfolglos bleiben. Der XI. Zivilsenat stellt das richtige Maß her zwischen Erfordernissen an den Sachvortrag bei Wiedereinsetzung und der richterlichen Hinweispflicht.

D. Auswirkungen für die Praxis
Im parallel besprochenen Fall des VI. Zivilsenats (Beschl. v. 02.02.2010 - VI ZB 58/09) hätte ein solcher Hinweis auf mögliche allgemeine organisatorischen Maßnahmen der Kanzlei zur Überprüfung der Fristeintragungen auch zu einem anderen Ergebnis führen können.

Ich sehe daher einen deutlichen Wertungswiderspruch zwischen den Entscheidungen des VI. Zivilsenats (v. 02.02.2010 - VI ZB 58/09), der eine solche Hinweispflicht überhaupt nicht in Betracht zieht und die Entscheidung im Wesentlichen auf einen Leitsatz stützt, der mit dem Sinn des Empfangsbekenntnisses und der anwaltlichen Praxis bei Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses nur schwer zu vereinbaren ist (vgl. meine vorangehende Anmerkung zu der Entscheidung vom 02.02.2010 - VI ZB 58/09), und der anwaltsfreundlichen Betonung der Hinweispflicht der Entscheidung des XI. Senats eine Woche später (in der hier besprochenen Entscheidung).

Angesichts der kontroversen Entscheidungen ist und bleibt die Rechtsprechung zur Wiedereinsetzung unberechenbar. Die anwaltliche Praxis muss sich aus Gründen anwaltlicher Vorsicht und mit Rücksicht auf die außerordentlich weitgehende Anwaltshaftung an den strengeren Maßstäben orientieren.