ZAP Kolumne 2009, Seite 211

ZAP Kolumne

Richterliche Selbst-Präjudikation
Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof

 

Eine alte chinesische Weisheit sagt: Es kommt nicht darauf an, wie die Dinge sind, sondern mit welchen Augen wir sie betrachten.

Steht diese Weisheit vielleicht auch im Zusammenhang mit voreiligen Festlegungen bei Entscheidungen von Gericht oder Staatsanwaltschaft? Wie wirklich sehen wir die Wirklichkeit (vgl. STRAUCH JZ 2000, 1020, 1027)? Suchen Entscheider vielleicht — bewusst oder unbewusst — nach Bestätigungen von längst gebildeten Vorurteilen durch selektive Wahrnehmung?

Ein Berufungsgericht ordnet vor Eingang der Berufungserwiderung Termin zur mündlichen Verhandlung an und lädt vorbereitend Zeugen, ein nach §§ 525, 273 Abs. 2 Ziff. 4 ZPO zulässiges Verfahren. Aber was geschieht, wenn sich aus der Berufungserwiderung ergibt, dass diese bereits erfolgte Zeugenladung überflüssig war?

Ein Staatsanwalt lässt auf Grund eines Anfangsverdachts im Büro eines Beschuldigten Unterlagen in einem Umfang beschlagnahmen, die nur mit Lastwagen abtransportiert werden können, führt Hausdurchsuchungen durch und arbeitet sich monatelang durch einen Berg von Unterlagen. Dann stellt er fest, dass der Verdacht unbegründet war.

Der BGH lässt auf die Nichtzulassungsbeschwerde einer Prozesspartei die Revision zu, ohne vorher die Erwiderung auf die Nichtzulassungsbeschwerde erhalten zu haben. Was geschieht, wenn sich aus der Nichtzulassungsbeschwerdeerwiderung Gründe ergeben, die — bei Einbeziehung in die Überlegungen — dazu geführt hätten, die Revision nicht zuzulassen?

Man würde gerne in solchen Fällen annehmen, dass die nachträglich gewonnenen richtigen Erkenntnisse im Ergebnis auch zur richtigen Entscheidung führen. Das würde in unseren Beispielen bedeuten:

Das Berufungsgericht müsste den Zeugen abladen, statt ihn zu vernehmen.

Der Staatsanwalt müsste einräumen, monatelang überflüssige Kosten und Arbeit aufgewendet zu haben und das Verfahren mangels Tatverdachts nach § 170 Abs. 2 StPO einstellen.

Der BGH kann die Zulassung der Revision zwar nicht mehr rückgängig machen. Vielleicht hätte er nach dem Studium des Nichtzulassungsbeschwerde-Erwiderungsschriftsatzes die Voraussetzungen der §§ 544, 543 Abs. 2 ZPO doch verneint. Er müsste aber im Ergebnis die Revision zurückweisen, obwohl ihre Zulassung ein Indiz für eine positive Aussicht sein könnte.

Kann man in solchen Fällen durchwegs mit richtigen Ergebnissen rechnen?

Ich glaube nicht: Es ist eine gängige Erkenntnis der Psychologie, dass jemand einen eingeschlagenen Weg, für den er unter Umständen bereits großen Aufwand betrieben hat, als den richtigen zu verteidigen geneigt ist und das durch selektive Rezeption bestätigt. Wer gibt schon gerne zu, dass er vorschnell gehandelt und entschieden hat?

Wir alle treffen — intuitive — Entscheidungen ad hoc und sichern sie gelegentlich selbstbestätigend ab. Davon sind auch Richter und Staatsanwälte nicht frei.

Gelegentlich — beispielsweise in den genannten Fällen — präjudizieren sich Gericht und Staatsanwalt selbst. Welche Bedeutung haben diese Präjudikationen?

Sie dienen (ebenso wie Präjudizien) dem Ziel, eine tragfähige Stütze zu schaffen, wo sonst nur schwankender Halt zu finden ist. Die Gesetzesauslegung wird evident vom Rechtsgefühl gesteuert. Hält der Ausleger sein Auslegungsergebnis oder den eingeschlagenen Weg für unbefriedigend, dann wird er zumindest versuchen, durch weitere Interpretationsmaßnahmen das von ihm angestrebte Ergebnis zu erzielen (vgl. EGON SCHNEIDER, Recht und Gesetz „Die Welt der Juristen", 3. Aufl., 1992, S. 132). Und wird dieses Rechtsgefühl dann nicht durch psychische Einflüsse gesteuert? Versucht nicht der Rechtsanwender, das sich selbst beweisende System, das er geschaffen hat, zu rechtfertigen?

Schnelle Entscheidungen sind durchaus grundsätzlich zu begrüßen. Bis dat qui cito dat.

Aber: Vorschnelle Maßnahmen setzen den Handelnden unter Erfolgsdruck. Wenn schon gleich Beweisaufnahme angeordnet wurde, wenn schon mit erheblichem Kosten und Zeitaufwand ermittelt worden, wenn schon die Revision zugelassen worden ist, muss dann nicht eine solche Entscheidung durch ein entsprechendes nachträgliches Ergebnis bestätigt werden? Wie soll sonst der erhebliche Aufwand gerechtfertigt werden, wenn sich im Ergebnis herausstellt: Es war doch nichts dran?

Hier tritt ein ähnliches Phänomen auf wie bei Berufungsentscheidungen. Welcher Berufungsrichter lässt schon gerne die Revision gegen sein Urteil zu. Denn er meint ja, Recht zu haben. In der Praxis führt das dazu, dass Berufungsgerichte viel zu selten (fast nur noch in Ausnahmefällen) Revisionen zulassen. Sie wollen ihre eigene Entscheidung ja möglichst einer Überprüfung entziehen. Umgekehrt wird gelegentlich das Kind mit dem Bad ausgeschüttet. In erstaunlichem Umfang lassen Landgerichte als Berufungsgerichte bei gewissen (gelegentlich presserelevanten) Modethemen der Rechtsprechung (etwa Wohnungsmietrecht, Reiserecht) Revisionen zu. Das hat etwa zur Folge, dass über die absurdesten und belanglosesten Detailfragen von Betriebskostenabrechnungen beim VIII. Zivilsenat des BGH mit großem Zeitaufwand gestritten wird.

Aber generell wird man an der Erkenntnis nicht vorbeikommen: Ein Schnellschuss bewirkt in der Art einer Self-fulfilling-Prophecy einen von Behörde oder Gericht selbst hergestellten Erfolgsdruck. Es muss doch etwas im Sinne der Vorbereitung herauskommen! Das führt dann unter Umständen dazu, dass man — vielleicht auch trotz späterer besserer Erkenntnis (gewonnen durch nähere Untersuchung oder den Vortrag der Gegenseite) — den eingeschlagenen Weg verfolgt und den betriebenen Eigenaufwand dadurch rechtfertigt, dass man bei dem von Anfang an als richtig vermuteten Ergebnis bleibt. Ob das dann wirklich immer das richtige ist, mag dahinstehen.

Sicherlich gibt es Staatsanwälte und Richter, die souverän genug sind, ihre Auffassung auf Grund neu gewonnener Erkenntnisse in Frage zu stellen oder ganz umzuwerfen. Je stärker aber der Entscheider von dem selbst geschaffenen psychischen Druck abhängig ist (ohne ihn möglicherweise überhaupt zu bemerken), desto eher wird er den einmal eingeschlagenen Weg — entgegen besserer Erkenntnis — weiterverfolgen. Diese Selbst-Präjudikation beeinflusst in der Praxis unter Umständen Entscheidungen, die nicht getroffen worden wären, hätte man im Vorfeld diesen Aufwand nicht betrieben und/oder die andere Seite gehört.

„Viel Unheimliches gibt es auf Erden, aber nichts ist unheimlicher als der Mensch".

Diese Erkenntnis des griechischen Dichters SOPHOKLES (496-406 v. Chr.) aus seiner „Antigone" gilt auch für Richter und Staatsanwälte.