NJW 1999, 3248

Postulationsfähigkeit nach der Jahrtausendwende

Rechtsanwalt Dr. Ekkehart Reinelt, München

Das Gesetz zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte vom 2. 9. 1994 schafft den Lokalisierungsgrundsatz ab. Im bisherigen § 78 I ZPO heißt es:

"Vor den Landgerichten und vor allen Gerichten des höheren Rechtszugs müssen die Parteien sich durch einen bei dem Prozeßgericht zugelassenen Rechtsanwalt als Bevollmächtigten vertreten lassen (Anwaltsprozeß)."

Die Neufassung des § 78 I ZPO gem. Art. 3 Nr. 1 des Gesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts lautet:

"Vor den Landgerichten müssen sich die Parteien durch einen bei einem Amts- oder Landgericht zugelassenen Rechtsanwalt und vor allen Gerichten des höheren Rechtszugs durch einen bei dem Prozeßgericht zugelassenen Rechtsanwalt als Bevollmächtigten vertreten lassen (Anwaltsprozeß)."

Das bedeutet also: Die Postulationsfähigkeit im ersten Rechtszug ist gegeben, wenn der Anwalt überhaupt bei einem Amts- oder Landgericht zugelassen ist. Die Postulationsfähigkeit des höheren Rechtszugs ist auf die Anwälte beschränkt, die bei dem höheren Gericht zugelassen sind. Die Neuregelung führt jedoch nicht zu einer eindeutigen Rechtslage bei Postulationsfähigkeit und Lokalisierungsgrundsatz ab 1. 1. 2000. Die zitierte Neuregelung des § 78 I ZPO tritt nach Art. 22 des Gesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts in den alten Bundesländern am 1. 1. 2000 in Kraft.

Für die neuen Bundesländer galt ursprünglich nach §§ 14, 22 Rechtspflegeanpassungsgesetz (RpflAnpG): Die dort zugelassenen Rechtsanwälte waren bei allen Gerichten der neuen Bundesländer (im ersten Rechtszug) postulationsfähig (Ausnahme: ein nur beim Amtsgericht zugelassener Rechtsanwalt nicht beim übergeordneten Landgericht, § 22 S. 2 RpflAnpG). Die Regelung des Gesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts, die in Art. 22 die Rechtsanwälte der neuen Bundesländer ab 1. 1. 1995 auf den Lokalisierungsgrundsatz verpflichten wollte, wurde vom BVerfG in zwei Entscheidungen für verfassungswidrig erklärt. Nach diesen Entscheidungen gilt: Bis zu einer neuen gesetzlichen Regelung, längstens bis zum 31. 12. 2004, sind - wie bisher - alle bei einem der neuen Bundesländer zugelassenen Anwälte vor jedem erstinstanzlichen Gericht eines der neuen Bundesländer postulationsfähig. Das bedeutet nach gegenwärtigem Stand für die Postulationsfähigkeit ab 1. 1. 2000:

Ab 1. 1. 2000 können Rechtsanwälte aus den alten Bundesländern einschließlich Berlin vor allen erstinstanzlichen Gerichten in den alten Bundesländern und in Berlin auftreten. Der Lokalisierungsgrundsatz in den alten Bundesländern entfällt. Aufgrund der Entscheidung des BVerfG verbleibt es für die Rechtsanwälte in den neuen Bundesländern dabei, daß diese ab 1. 1. 2000 vor allen Gerichten der neuen Bundesländer auftreten können. Da die Übergangsregelung des Art. 22 des Gesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts nur für die alten Bundesländer ab 1. 1. 2000 Wirkung entfaltet (für die neuen erst ab 1. 1. 2005), bedeutet das für die Anwälte in den alten Bundesländern: Sie sind uneingeschränkt postulationsfähig bei den erstinstanzlichen Gerichten der alten Bundesländer, nicht jedoch bei denjenigen der neuen Bundesländer.

Umstritten ist, was für die Postulationsfähigkeit der Rechtsanwälte in den neuen Bundesländern gelten soll: Das BMJ ist der Auffassung, die ostdeutschen Rechtsanwälte könnten bis zum 31. 12. 2004 nur vor den Gerichten der neuen Bundesländer auftreten. Diese Auffassung ist jedoch mit der Übergangsvorschrift des Art. 22 des Gesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts nicht vereinbar. Mit dieser Regelung wird die Postulationsfähigkeit uneingeschränkt (jetzt nur) in den alten Bundesländern aufgehoben. Das Gesetz enthält keine Einschränkungen (und könnte sie wohl auch nicht enthalten) dahin, daß diese Aufhebung nur für Rechtsanwälte in den alten Bundesländern gelte. Vielmehr wird der Postulationszwang vor den dortigen Gerichten generell abgeschafft (vorbehaltlich des Postulationszwangs vor höheren Instanzen). Daraus ergibt sich, daß die Rechtsanwälte aus den neuen Bundesländern nach der gegenwärtigen Rechtslage ab 1. 1. 2000 vor allen erstinstanzlichen Gerichten der Bundesrepublik, die Rechtsanwälte aus den alten Bundesländern jedoch nicht bei den Gerichten der neuen Bundesländer auftreten können. Das Ergebnis ist also: Ostdeutsche Anwälte können überall auftreten, westdeutsche Anwälte sind auf das Gebiet der alten Bundesrepublik beschränkt. Die Neuregelung dieser gespaltenen Postulationsfähigkeit durch das Gesetz der Neuordnung des Berufsrechts vom 2. 9. 1994 einerseits und die Entscheidungen des BVerfG andererseits führen also zu einer gespaltenen Postulationsfähigkeit und einer Ungleichbehandlung der Rechtsanwälte in den alten und neuen Bundesländern (Besserstellung der Rechtsanwälte in den neuen Bundesländern).

Das BVerfG hat in seiner Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde gegen die Einführung des Lokalisierungsgrundsatzes in den neuen Bundesländern ausgeführt: "Allerdings ist Konkurrenzschutz grundsätzlich kein Gemeinwohlbelang, der Einschränkungen der Berufsfreiheit rechtfertigen kann. Hier geht es aber darum, Wettbewerbsnachteile zu kompensieren, die sich aus der besonderen Situation der Rechtsanwälte in den neuen Bundesländern nach dem Beitritt ergaben. Vor allem aber soll der flächenbezogene Konkurrenzschutz einer Verbesserung des anwaltlichen Dienstleistungsangebots dienen . . . Gemessen an dem von Gesetzgeber verfolgten Gemeinwohlbelang fehlt es jedoch an der Erforderlichkeit des Grundrechtseingriffs, weil das Ziel durch ein anderes in gleicher Weise wirksames Mittel erreicht werden kann, bei dessen Einsatz das Grundrecht nicht oder weniger beeinträchtigt wird . . ." Mit dieser Begründung hat das BVerfG entschieden: Fortbestand der uneingeschränkten Postulationsfähigkeit für die Rechtsanwälte in den neuen Bundesländern ist von Verfassungs wegen gem. Art. 12 GG geboten; der übermäßige Eingriff in die Form der Beschränkung der Postulationsfähigkeit stellt eine Benachteiligung der Rechtsanwälte in den neuen Bundesländern dar, die mit der Verfassung nicht vereinbar ist.

Diese Grundsätze können aber nicht nur für die Anwälte in den neuen Bundesländern gelten. Es ist vor der Verfassung nicht zu rechtfertigen, daß die Entscheidung des BVerfG vor dem Hintergrund des Gesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts ab 1. 1. 2000 zu einer Wettbewerbsverzerrung zu Lasten der Anwälte in den alten Bundesländern führen soll.

Das BVerfG hat seine Entscheidungen - Nichtigkeit des in § 78 I ZPO verankerten Lokalisationsgrundsatzes zu Lasten der Anwälte in den neuen Bundesländern - u.a. damit begründet, daß der Wettbewerbsvorsprung der Rechtsanwälte in den alten Bundesländern, an denen die Rechtsanwälte der neuen Bundesländer zunächst nicht teilhaben konnten, ausgeglichen werden müsse. Dieser Ausgleich ist auf der Basis der Entscheidung des BVerfG inzwischen erfolgt. Eben diese Entscheidung führt aber im Zusammenwirken mit der Übergangsregelung mit Wirkung ab 1. 1. 2000 umgekehrt jetzt zu einem nicht zu rechtfertigenden Wettbewerbsvorsprung der Rechtsanwälte in den neuen Bundesländern und einem entsprechenden Nachteil der westdeutschen Anwälte. Wenn man diese Rechtslage an der Begründung der Entscheidung des BVerfG mißt, muß ein jetzt verfassungsmäßig nicht zu rechtfertigender Wettbewerbsvorsprung der Rechtsanwälte aus den neuen Bundesländern mit Wirkung ab 1. 1. 2000 konsequent zur Verfassungswidrigkeit der Übergangsregelung in Art. 22 II letzter Satz führen.

Da der Gesetzgeber mit seinem Gesetz zur Neuordnung des Berufsrechts vom 2. 9. 1994 und der von ihm dort formulierten Übergangsvorschrift des Art. 22 vor dem Hintergrund der BVerfG-Entscheidungen das Ziel gerade nicht erreichen konnte, den Lokalisierungsgrundsatz erst am 1. 1. 2005 in den neuen Bundesländern (für die dortigen Anwälte) aufzuheben, ist eine die Berufsausübung beschränkende und die Rechtsanwälte in den alten Bundesländern gegenüber den Kollegen in den neuen Bundesländern kraß benachteiligende Regelung mit Art. 12 GG und Art. 3 GG nicht vereinbar. Art. 22 II letzter Satz ("in den übrigen Ländern treten sie am 1. 1. 2005 in Kraft [nämlich die Aufhebung des Lokalisierungsgrundsatzes]") verstößt also zu Lasten der Anwälte in den alten Bundesländern gegen die Verfassung.

Im Interesse der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit und zur Wahrung der von Verfassungs wegen gebotenen Gleichheit unter den Anwälten wäre es zu begrüßen, wenn der Gesetzgeber - möglichen Verfassungsbeschwerden vorgreifend - zur Klarstellung der Übergangsregelung den letzten Satz des § 22 des Gesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte vom 2. 9. 1994 aufheben und das Inkrafttreten der Neuregelung auch für die neuen Bundesländer anordnen würde. Damit wäre eindeutig klargestellt, daß uneingeschränkte Postulationsfähigkeit ab 1. 1. 2000 im gesamten Bundesgebiet gilt.

Ost- und westdeutsche Anwälte wären damit - wie verfassungsrechtlich geboten - gleichgestellt: Sie könnten vor allen erstinstanzlichen Gerichten der Bundesrepublik auftreten.