ZAP Kolumne 2015, Heft Nr. 13, Seite 691

ZAP Kolumne

Rechtschutzlücken bei der einstimmigen Zurückweisung der Berufung durch Beschluss (§ 522 Abs. 2 ZPO)
Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof

Bekanntlich kann seit dem 27.10.2011 (Gesetz vom 21.10.2011 BGBl I, S. 2082) gegen sog. einstimmige Zurückweisungsbeschlüsse Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesgerichtshof eingelegt werden. Das ist eine Verbesserung gegenüber dem früheren Rechtszustand, bei dem der Rechtssuchende solchen Zurückweisungsbeschlüssen hilflos ausgeliefert war (vgl. Reinelt, Die unendliche Geschichte – § 522 II ZPO, ZRP 7/2009, S. 203). Anlässlich der Diskussion um das damals in Vorbereitung befindliche Gesetz im Rechtsausschuss des Bundestags im Mai 2011, an der der Unterzeichner beteiligt war, stand auch die Abschaffung des schriftlichen Zurückweisungsverfahrens zur Diskussion. Das wäre die bessere Lösung gewesen (so auch Gehrlein NJW 2014, 3393; Greger BRAK-Mitteilungen 2015, 22). Aber die Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde gegen einstimmige Beschlusszurückweisungen der Berufungsgerichte bedeutet – jedenfalls bei einer Beschwer von über 20.000 € (§ 26 Nr. 8 EGZPO) – immerhin eine Verbesserung des Rechtszustands gegenüber der früheren Situation.

Trotzdem: Es bleibt dabei, dass die Regelung insgesamt mehr Schaden als Nutzen stiftet (Greger BRAK-Mitteilungen 2015, 22). Selbst die Apologeten des § 522 Abs. 2 ZPO räumen ein, dass die Zurückweisung, wenn sie richtig und sorgfältig gehandhabt wird, keine Vereinfachung gegenüber dem durch mündliche Verhandlung und Urteil geprägten üblichen Berufungsverfahren bringt (Radke juris jM 2015, 228, 231). Sie fördert statt einer Arbeitserleichterung für Richter und Anwälte nur Justizverdrossenheit der Betroffenen, die den Eindruck haben, einem Berufungsverfahren zweiter Klasse ausgesetzt zu sein (Gehrlein a.a.O., 3398).

In der gesamten Diskussion des Pro und Contra der einstimmigen Beschlusszurückweisung bleibt allerdings bisher eine empfindliche Rechtschutzlücke des Beschlussverfahrens vollständig unbeachtet.

Ein Zurückweisungsbeschluss, der nach einem entsprechenden Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts ergeht, enthält zwingend – ähnlich wie ein Urteil, wenn auch ggf. in verkürzter Form – als ersten Teil der Entscheidungsgründe (I.) eine – ggf. auch komprimierte – Darstellung des Sach- und Streitstands, die Wiedergabe des vom Erstgericht zugrunde gelegten Sachverhalts und eine Darstellung der Berufungsangriffe mit Anträgen (§ 522 Abs. 2 S. 4 ZPO). Im nächsten Teil (II.) wird dann begründet, warum die Berufung offensichtlich nach übereinstimmender Meinung der Berufungsrichter keine Aussicht auf Erfolg hat. Der Beschluss auf Zurückweisung der Berufung ist nach § 522 Abs. 2 S. 3 ZPO zu begründen, und zwar im Hinweisbeschluss oder im Zurückweisungsbeschluss selber. Der Zurückweisungsbeschluss muss dann außerdem eine Bezugnahme auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil mit Darstellung etwaiger Änderungen oder Ergänzungen enthalten (§ 522 Abs. 2 S. 4 ZPO).

Auch wenn die Begründung knapper ausfallen kann als bei einem Berufungsurteil nach § 540 ZPO, ist es unerlässlich, die tatsächlichen Feststellungen der ersten Instanz und den eventuellen neuen Vortrag des Berufungsführers festzuhalten (Zöller/Heßler, 30. Aufl., § 522 Rn. 41). Der wesentliche Tatbestand und die Gründe können allerdings auch im Hinweisbeschluss enthalten sein, auf den der Zurückweisungsbeschluss des Berufungsgerichts dann Bezug nehmen muss. Im Ergebnis sind die Prozessparteien ebenso wie bei der Entscheidung durch Urteil darauf angewiesen, dass die tatsächlichen Feststellungen und die Anträge vollständig und zutreffend wiedergegeben werden.

Es kommt aber in der Praxis leider immer wieder vor, dass die komprimierte Darstellung des Sachverhalts im Zurückweisungsbeschluss unvollständig oder unzutreffend ist. Das kann zu Problemen führen. Denn der zusammengefasste Sachverhalt ist die Basis der Entscheidung des BGH über eine eventuelle Nichtzulassungsbeschwerde (§ 559 ZPO). Deshalb wird eine von der fehlerhaften Sachverhaltsdarstellung oder von fehlerhafter Wiedergabe von Anträgen betroffene Partei eine Berichtigung des im Berufungsbeschluss dargestellten Sachverhalts zu erreichen versuchen. Dafür gibt es die Tatbestandsberichtigung nach § 320 ZPO.

In einem Fall vor dem Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht spielte für die Frage der Geltendmachung der Ansprüche des Klägers eine entscheidende Rolle, wann der Verkauf eines Grundstücks erfolgt war. Dazu fand sich im Zurückweisungsbeschluss folgende Feststellung: „Der Verkauf des Grundstücks war im Jahre 2008 …“.

Das war unzutreffend. Die Klagepartei hatte das auch nie so vorgetragen. Tatsächlich erfolgte der Verkauf – streitentscheidend – erst im Jahre 2009. Auf den entsprechenden Fehler weist der Prozessbevollmächtigte des Klägers hin und verbindet dies mit einem entsprechenden Tatbestandsberichtigungsantrag.

Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht verwirft aber den Tatbestandsberichtigungsantrag als unzulässig (Beschl. v. 21.5.2015 – 5 U 203/14). Die Begründung: Der Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO unterliegt grundsätzlich nicht der Tatbestandsberichtigung gem. § 320 ZPO. Denn die dort gekürzte Wiedergabe des Parteivorbringens besitzt keine urkundliche Beweiskraft. Die hierfür maßgebende Vorschrift des § 314 ZPO beziehe sich grundsätzlich nur auf den Tatbestand von Urteilen. Nach § 329 ZPO ist die Tatbestandsberichtigungsvorschrift des § 320 ZPO nicht auf Beschlüsse anwendbar. Eine analoge Anwendung scheidet – so das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht – angesichts des klaren Wortlauts aus. Die erweiternde Auslegung auf Beschlüsse – so das OLG – überschreitet die Grenze des möglichen Wortsinns.

Diese Auffassung ist bei wortgetreuer Interpretation der Vorschriften vertretbar, im Ergebnis aber nicht sinnvoll. Im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren sind die tatsächlichen Feststellungen im Zurückweisungs- oder Hinweisbeschluss in gleicher Weise Basis für die Rechtsprüfung wie bei einem Urteil. § 559 ZPO ist nach einhelliger Meinung in vollem Umfang auch auf das Beschlussverfahren anzuwenden (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 73. Aufl. 2015, § 559 ZPO, Rn. 3: „Die Vorschrift gilt in jedem Revisionsverfahren nach der ZPO und den auf sie verweisenden Gesetzen.“). Die Parallelität der beiden Verfahren – Urteil oder Beschluss des Berufungsgerichts – legt es nahe, hier entgegen der Auffassung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts von einer planwidrigen Gesetzeslücke auszugehen und eine Tatbestandsberichtigung trotz des insoweit problematischen Wortlauts von §§ 329, 320 ZPO in analoger Anwendung zu ermöglichen (zur planwidrigen Gesetzeslücke vgl. BGH, Urt. v. 13.4.2006 – IX ZR 22/05, NJW 2006, 2297 unter Hinweis auf Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., S. 381).

Aber diese Lösung hat das Berufungsgericht nicht gewählt, sondern den Tatbestandsberichtigungsantrag – orientiert am Wortlaut der §§ 329, 320 ZPO – abgelehnt.

Die Folge: Es bleibt bei der fehlerhaften Grundlage für die Entscheidung bei der einstimmigen Beschlusszurückweisung. Was soll der Kläger tun? Er wird sein Heil im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde suchen. Aber: Er muss angesichts der hohen Zurückweisungsquote damit rechnen, dass er vom BGH nur mit der gesetzlich zulässigen, aber immer im Ergebnis unbefriedigenden Pauschalbegründung des § 544 Abs. 4 ZPO bedient wird:

„Die Nichtzulassungsbeschwerde wird zurückgewiesen. Von einer Begründung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist (§ 544 Abs. 4 ZPO).“

Vielleicht äußert sich der BGH aber über die nichtssagende Leerformel der gesetzlichen Regelung des § 544 Abs. 4 S. 2 ZPO hinaus doch zum Vortrag des Klägers über eine Verletzung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 GG wegen Verweigerung der Tatbestandsberichtigung. Was würde der BGH dazu dann sagen? Der V. Senat hat in einem Rechtsstreit im Jahre 2014 (der nicht mit dem oben geschilderten Verfahren des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts zusammenhängt) entschieden: Auch wenn das Berufungsgericht das rechtliche Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt hat, scheitert die Nichtzulassungsbeschwerde bei Rüge eines tatsächlichen Fehlers daran, dass die Klagepartei nicht nach § 320f ZPO mit der Tatbestandsberichtigung vorgegangen ist. Für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde gelte nichts anderes. Mit der Rüge nach Art. 103 Abs. 1 GG kann – so der V. Senat – die Bindungswirkung tatbestandlicher Feststellungen, zu denen auch prozessuale Erklärungen der Parteien gehören, nicht ausgeräumt werden (BGH, Beschl. v. 20.3.2014 – V ZR 130/13). Dazu ist ein (ggf. vom Berufungsgericht als unzulässig verworfener) Tatbestandsberichtigungsantrag unerlässlich.

Ergebnis also: Während das Berufungsgericht (in einem anderen Fall) die Zulässigkeit des Tatbestandsberichtigungsverfahrens bei der einstimmigen Beschlusszurückverweisung verneint, fordert sie der BGH als Voraussetzung für eine Prüfung der Nichtzulassungsbeschwerde.

Wieder einmal gerät eine Prozesspartei im Zusammenhang mit der verfehlten Regelung des § 522 Abs. 2 ZPO in der Art der griechischen Tragödie zwischen die Stühle: Der Tatbestandsberichtigungsantrag ist nach der Rechtsprechung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts unzulässig, nach Auffassung des BGH kann das im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren nicht repariert werden. Das rechtliche Gehör nach Art. 103 GG bleibt auf der Strecke.

Man könnte das durch die vorgeschlagene analoge Anwendung der Tatbestandsberichtung auf den einstimmigen Beschluss vermeiden. Der Gesetzgeber hätte es aber auch im Zusammenhang mit der Einführung des § 522 Abs. 3 ZPO im Jahre 2011 in der erforderlichen Weise regeln können. Zusammen mit der Einführung des Rechtsmittels nach § 522 Abs. 3 ZPO gegen die sog. einstimmigen Beschlusszurückweisungen wäre eine Ergänzung des § 320 ZPO – ausdrückliche Anwendbarkeit auch auf die Beschlüsse nach § 522 ZPO – notwendig gewesen. Das ist offensichtlich übersehen worden.

Bei der jetzigen Rechtslage findet sich der Rechtsuchende in der Situation des Landvermessers K. in Kafkas Schloss. Wie dieser durch eine trostlose und skurrile Welt irrt, schlingert der Kläger durch raue Gewässer zwischen Skylla (Berufungsgericht) und Charybdis (Revisionsgericht) auf der vergeblichen Suche nach einem nicht mehr berichtigungsfähigen Tatbestand und nach seinem rechtlichen Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG).

Bevor jetzt allerdings wieder an der seit 2011 geänderten, leicht verbesserten, aber immer noch problematischen Vorschrift des § 522 ZPO herumgeflickt wird, sollte man sich noch einmal die schon eingangs zitierte Erkenntnis vor Augen halten (Greger BRAK-Mitteilungen 2015, 22, 26; vgl. auch Reinelt, NJW-Editorial, Heft 4/2010): Die gesamte Regelung des § 522 Abs. 2 und 3 ZPO stiftet insgesamt mehr Schaden als Nutzen. Sie sollte abgeschafft werden.