Legal Tribune online, März 2011, www.lto.de

Zurückweisung der Berufung durch Beschluss
Die überraschende Blauäugigkeit des Rechtsausschusses

Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof

 

Ob die geplante Reform des Zurückweisungsbeschlusses im Zivilprozess tatsächlich Gerechtigkeitslücken schließen und die Zersplitterung des Verfahrensrechts beheben kann, bleibt umstritten. Nun hat der Rechtsausschuss des Bundesrats zur Änderung von § 522 Abs. 2 ZPO Stellung genommen – das Ergebnis taugt allerdings nur für den Papierkorb. Ein Kommentar von Ekkehart Reinelt.

Der Rechtsausschuss des Bundesrates hat am 7. März 2011 gegenüber der Länderkammer die Empfehlung abgegeben, von der Einführung eines Rechtsmittels gegen die so genannte einstimmige Beschlusszurückweisung nach § 522 Abs. 2 ZPO abzusehen (Bundesrat Drucksache 59/1/11). Er hält die im Regierungsentwurf vorgesehene Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde für überflüssig.

In seiner Begründung stellt das Gremium lediglich auf befürchtete Verfahrensverzögerungen und Mehrbelastungen der Berufungsgerichte bei Inkrafttreten des Regierungsentwurfs ab. Die eklatanten Gerechtigkeitsdefizite und die unerträgliche Rechtszersplitterung auf Grund flächendeckend uneinheitlicher Anwendung der einstimmigen Beschlusszurückweisung werden in der Stellungnahme ignoriert. Erneut beruft der Rechtsausschuss sich auf die Richtigkeitsgarantie der "Einstimmigkeit", die längst als Schimäre entlarvt ist.

Der vorgeschlagene Zusatz: theoretisch verfehlt und praktisch irrelvant

Statt der Einführung eines Rechtsmittels zum Bundesgerichtshof schlägt der Rechtsausschuss vor, § 522 Abs. 2 ZPO durch einen Zusatz zu ergänzen, der die zwingende Beschlusszurückweisung bei Erfüllung der in § 522 Abs. 2 ZPO genannten Voraussetzungen einschränkt: Das Berufungsgericht soll ausnahmsweise nach Bejahung der Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 ZPO doch mündliche Verhandlung anordnen, wenn es diese nach Abwägung auch im Interesse der Parteien für angemessen hält.

Man fragt sich wirklich, was die Mitglieder des Rechtsausschusses des Bundesrates sich dabei gedacht (oder nicht durchdacht) haben. Der Zusatz ist theoretisch verfehlt und praktisch vollkommen irrelevant. Selbstverständlich entscheidet das Berufungsgericht nur dann durch einstimmigen Beschluss, wenn es eine mündliche Verhandlung gerade nicht für angemessen und notwendig hält.

Der einschränkende Zusatz, den der Rechtsausschuss des Bundesrates vorschlägt, beruht also von vornherein auf einem Zirkelschluss: Nur dann, wenn das Berufungsgericht eine mündliche Verhandlung gerade nicht für notwendig gehalten hat, entscheidet es sich (und zwar in der Praxis contra legem nach Ermessen) für den Weg des § 522 Abs. 2 ZPO. Das Berufungsgericht kann aber – ohne Verstoß gegen den logischen Grundsatz vom ausgeschlossenen Widerspruch – nicht zugleich die Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 ZPO bejahen und verneinen. Der vollständig sinnfreie einschränkende Zusatz, den die Juristen des Rechtsauschusses sich ausgedacht haben, ist theoretisch und praktisch verfehlt. Er steht nur auf dem Papier.

Mitglieder des Rechtschausschusses verkennen Keim der Ungerechtigkeit

Abgesehen von dem hier zu Tage tretenden äußerst entspannten Verhältnis zur gedanklichen Folgerichtigkeit: Die Mitglieder des Rechtsausschusses des Bundesrates ignorieren vollständig die massiven Gerechtigkeitsdefizite in der Anwendung des § 522 Abs. 2 ZPO und das unsägliche Leid, das die willkürliche Anwendung dieser Vorschrift über viele Rechtssuchende gebracht hat. Sind sie dafür blind oder interessiert es sie nicht? Vermutlich fehlt einfach die unmittelbare Erfahrung aus der Praxis.

Jedenfalls: Die Stellungnahme geht vollständig vorbei an den Gerechtigkeitslücken und an der unerträglichen Zersplitterung des Verfahrensrechts in der Bundesrepublik, die Anlass für die Änderungsentwürfe der Regierung (Einführung eines Rechtsmittels zum BGH) und der SPD (vollständige Abschaffung des sog. einstimmigen Beschlusszurückweisung) bildeten.

Eine Vorschrift, die - wie § 522 Abs. 2 ZPO - den Keim der Ungerechtigkeit in sich trägt, kann in einem Rechtsstaat nicht bestehen bleiben. Dass Mitglieder eines Rechtsausschusses das überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen scheinen, kann nur Betroffenheit auslösen.

Bleibt zu hoffen, dass der Bundesrat und die weiter mit der Änderung des § 522 Abs. 2 ZPO befassten Gremien erkennen: Die Stellungnahme des Rechtsausschusses des Bundesrates taugt nur für den Papierkorb.