jurisPR-BGHZivilR 1/2015 Anm. 1

Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Bieters bei der Vergabe nach § 241 Abs. 2 BGB ("Fahrbahnerneuerung II")
BGH 10. Zivilsenat, Urteil vom 11.11.2014 - X ZR 32/14
von Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, RA BGH

Leitsatz
Die Erteilung des Zuschlags auf ein von einem Kalkulationsirrtum beeinflusstes Angebot kann einen Verstoß gegen die Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des betreffenden Bieters darstellen. Die Schwelle zu einem solchen Pflichtenverstoß ist überschritten, wenn dem Bieter aus Sicht eines verständigen öffentlichen Auftraggebers bei wirtschaftlicher Betrachtung schlechterdings nicht mehr angesonnen werden kann, sich mit dem irrig kalkulierten Preis als einer auch nur annähernd äquivalenten Gegenleistung für die zu erbringende Bau-, Liefer- oder Dienstleistung zu begnügen (Weiterführung von BGH, Urt. v. 07.07.1998 - X ZR 17/97 - BGHZ 139, 177).

A. Problemstellung
In welchem Umfang muss bei der Vergabe auf die Interessen eines sich grob verkalkulierenden Bieters Rücksicht genommen werden? Mit dieser Frage befasst sich die hier besprochene Entscheidung. Sie konkretisiert gleichzeitig die Anwendung der Schutz- und Rücksichtnahmepflicht, die § 241 Abs. 2 BGB (eine Schöpfung des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes) regelt. Danach kann bei einem Schuldverhältnis jeder Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichtet sein.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Das klagende Bauunternehmen wurde in einem Vergabeverfahren mit Straßenbauarbeiten von der Straßenbaubehörde des beklagten Landes beauftragt. Es erbrachte die entsprechenden Leistungen. Die daraus resultierende Werklohnforderung, die sie im vorliegenden Rechtsstreit hinsichtlich eines Restbetrages von 164.567,29 Euro geltend macht, ist nach Grund und Höhe unstreitig. Umstritten im Prozess bleibt lediglich eine Hauptaufrechnung des beklagten Landes mit einer Gegenforderung. Dieser Gegenforderung liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Das beklagte Land hatte weitere Bauarbeiten zur Fahrbahnerneuerung an einer anderen Straße ausgeschrieben. Die Klägerin hat dort das weitaus günstigste Angebot abgegeben, von dem sich herausstellte, dass es rund 27% unter demjenigen des Nächstbietenden lag. Zu einem derart günstigen Angebot war es gekommen, weil der Bieter in dem vom Land aufgestellten Leistungsverzeichnis versehentlich einen falschen Mengenansatz für den Asphaltbinder gewählt hatte. Statt der geforderten Abrechnungseinheit „Tonne“ (Menge 4.125) wurde die Abrechnungseinheit „m²“ und als Massenansatz 150 kg/m² zugrunde gelegt. Der korrekte Einheitspreis für die Tonne müsse – so die Klägerin – 59,59 Euro pro Tonne sein. Die Umrechnung der versehentlich falschen Abrechnungseinheit führte demgegenüber zu einem Preis von nur 9,60 Euro/m². Der entsprechende Irrtum hatte zur Folge, dass das weitaus günstigste Angebot des klagenden Bieters um rund 27% unter demjenigen des Nächstbietenden lag.

Den falschen Ansatz bezüglich dieser Position im Angebot teilte die Klägerin der Vergabestelle noch vor dem Zuschlag mit. Sie bat darum, ihr Angebot wegen des Irrtums aus der Wertung zu nehmen. Dem entsprach die Vergabestelle nicht, sondern erteilte trotz der Aufklärung durch die Klägerin über den Irrtum dieser den Zuschlag. Die Klägerin führte die Leistung nicht aus. Nach Rücktritt vom Vertrag beauftragte die Vergabestelle einen anderen Bieter. Dieser rechnete für die Ausführung einen Betrag ab, der insoweit um 175.559,14 Euro (rund 27%) das Angebot der Klägerin überstieg. Diesen Betrag macht das Land als Auftraggeber im Wege der Aufrechnung in entsprechender Höhe gegenüber der Klageforderung geltend.

Beide Instanzgerichte haben der Werklohnklage stattgegeben. Eine aufrechenbare Gegenforderung des Landes haben sie verneint. Erstgericht und Berufungsgericht haben allerdings die Berechtigung der Anfechtung der Klägerin in Bezug auf ihr Vertragsangebot wegen Erklärungsirrtums nach § 119 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht für begründet gehalten.

Gleichwohl kommt das Berufungsgericht zu einem für den Bieter günstigen Ergebnis: Die Annahme des Vertragsangebots durch das beklagte Land stellt eine unzulässige Rechtsausübung dar. Die Klägerin habe die Vergabestelle vor Vertragsschluss auf ihren Irrtum hingewiesen. Der gravierende Berechnungsfehler sei deshalb noch vor Vergabe ohne weiteres nachvollziehbar gewesen. Dem habe sich das beklagte Land nicht verschließen dürfen, die Unzumutbarkeit der Auftragsausführung habe sich bereits vielmehr aus erkennbaren Umständen vor dem Zuschlag ergeben. Auf die Unzumutbarkeit mit Rücksicht auf Größe und Leistungsfähigkeit des ausführenden Unternehmens komme es vor diesem Hintergrund nicht an. Deshalb – so das Berufungsgericht – verstoße das Land mit der gleichwohl erfolgten Erteilung des Zuschlags gegen Treu- und Glauben (§ 242 BGB).

Der BGH weist die Revision des beklagten Landes zurück. Er teilt im Ergebnis die Auffassung des Berufungsgerichts, akzentuiert die Begründung jedoch anders. Mit dem Berufungsgericht geht er davon aus, dass kein Erklärungsirrtum nach § 119 Abs. 1 Satz 1 BGB, sondern ein an sich unbeachtlicher Kalkulationsirrtum zugrunde liegt, der eine Anfechtung nicht rechtfertigt. Nach Auffassung des BGH gilt aber Folgendes:

Steht der Kalkulationsirrtum wie hier im Zeitpunkt der Entscheidung über die Zuschlagserteilung außer Streit, hängt die Entscheidung nur noch davon ab, ob der Auftraggeber im Hinblick auf die Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des betroffenen Bieters nach § 241 Abs. 2 BGB von der Zuschlagserteilung hätte absehen müssen.

Die Rücksichtnahmepflicht aus § 241 Abs. 2 BGB – so der BGH – verlangt vom öffentlichen Auftraggeber allerdings nicht, bei jeglichem noch so geringen Kalkulationsirrtum von der Annahme des Angebots und damit vom Zuschlag abzusehen. Die Regelung sei kein Korrektiv, mit dem sich ein bietendes Unternehmen der Verantwortung für eigenes geschäftliches Handeln entziehen könne. Die Schwelle zum Pflichtenverstoß nach § 241 Abs. 2 BGB ist nach Auffassung des X. Zivilsenats bei Erteilung des Zuschlags aber dann überschritten, wenn dem Bieter aus der Sicht eines verständigen öffentlichen Auftraggebers bei wirtschaftlicher Betrachtung schlechterdings nicht mehr angesonnen werden kann, sich mit dem irrig kalkulierten Preis zu begnügen. Vielmehr gilt: In einem solchen Fall kann der Auftragnehmer, wenn der Auftraggeber gleichwohl den Zuschlag erteilt, dem Erfüllungs- und Schadensersatzansprüchen ein Leistungsverweigerungsrecht entgegensetzen.

Unter Berücksichtigung dieser Umstände und der krassen, erkennbaren Unterkalkulation (Angebot des Bieters: 455.052,29 Euro, nachfolgender Bieter: 621.054,68 Euro) und der Erkennbarkeit des folgenreichen Fehlers noch vor dem Zuschlag sei das vergebende Land im vorliegenden Fall nach § 241 Abs. 2 BGB verpflichtet gewesen, von der Erteilung des Zuschlags abzusehen.

C. Kontext der Entscheidung
Die Verpflichtung zur Rücksichtnahme nach § 241 Abs. 2 BGB, eine durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz neu eingefügte Vorschrift, hatte der X. Zivilsenat bereits durch eine frühere Entscheidung etabliert (BGH, Urt. v. 09.06.2011 - X ZR 143/10 - BGHZ 190, 89 „Rettungsdienstleistung II“).

Dieser Entscheidung war – noch vor dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz – ein Urteil vom 08.09.1998 (X ZR 99/96 - BGHZ 139, 280) vorausgegangen. Dort ging es um die Ersatzpflicht eines öffentlichen Auftraggebers im Falle der Aufhebung einer Ausschreibung. Grundlage der Schadensersatzpflicht nach der damaligen Entscheidung waren die Grundsätze der culpa in contrahendo: Die Teilnehmer an der Ausschreibung dürfen darauf vertrauen, dass der mit der Erstellung des Angebots und der Teilnahme am Verfahren verbundene Aufwand nicht von vornherein nutzlos ist. Der BGH hat in jener Entscheidung noch den Vertrauenstatbestand zugunsten des Bieters untersucht.

In der späteren Entscheidung vom 09.06.2011 (X ZR 143/10) hat der X. Zivilsenat dann einen Schadensersatzanspruch des Bieters gegen den öffentlichen Auftraggeber aus den §§ 280 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. 241 Abs. 2 BGB bejaht und diesen gegen die frühere Rechtsgrundlage des Verschuldens bei Vertragsanbahnung (culpa in contrahendo) abgegrenzt. Er hat in der Entscheidung aus dem Jahre 2011 („Rettungsdienstleistungen II“) deutlich gemacht: Bei Verletzung der Rücknahmepflicht des § 241 Abs. 2 BGB kommt es nicht mehr auf zusätzlich in Anspruch genommenes Vertrauen an, anders als bei der früheren Rechtslage der Ansprüche aus culpa in contrahendo. Mit der Entscheidung aus dem Jahre 2011 erweitert der BGH die Rechte eines klagenden Bieters gegenüber dem öffentlichen Auftraggeber. Schadensersatzansprüche, die auf ein vergaberechtliches Fehlverhalten des öffentlichen Auftraggebers vor Vertragsschluss gestützt werden, ergeben sich bereits aus der Verletzung der Rücksichtnahmeverpflichtung des ausschreibenden öffentlichen Auftraggebers gegenüber dem Beteiligten, ohne dass zusätzlich gewährtes Vertrauen eine Rolle spielt (vgl. hierzu Reinelt, jurisPR-BGHZivilR 15/2011 Anm. 3).

Diese frühere Rechtsprechung verfestigt der X. Senat mit der hier besprochenen neuen Entscheidung vom 11.11.2014, in der er den Anwendungsbereich des § 241 Abs. 2 BGB klar herausarbeitet.

D. Auswirkungen für die Praxis
Der Bieter ist und bleibt für seine eigene Kalkulation in vollem Umfang verantwortlich. Allerdings kann das Vergabeunternehmen oder die Vergabestelle ihn nicht beliebig an jedem Fehler festhalten. Die Rücksichtnahmeverpflichtung, die § 241 Abs. 2 BGB statuiert, soll eine unmäßige Übervorteilung eines Bieters verhindern. Die Kombination einer extremen Divergenz des angebotenen zum angemessenen Preis oder zum Angebot des nächsten Bieters, gerade unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Kalkulationsirrtum noch vor Zuschlag deutlich wird, muss dazu führen, der Vergabestelle das Festnageln des Bieters zu versagen.

Nach dieser Rechtsprechung kommt es nicht mehr darauf an, ob die Durchführung des Auftrags im Einzelfall zu gravierenden wirtschaftlichen oder existenziellen Grenzproblemen des Bieters führt. Die Unzumutbarkeit der Vertragsausführung unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Folgen für das Unternehmen spielt in einem solchen Fall keine entscheidende Rolle. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen dem Auftragnehmer die Vertragsdurchführung zugemutet werden kann, ist nicht davon abhängig, ob man auf wucherähnliche Missverhältnisse zwischen Preis und Bauleistung oder existenzielle Probleme des Bieters schließen muss.

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Nicht ausdrücklich behandelt hat der BGH die Frage, warum im vorliegenden Fall von einem unbeachtlichen Kalkulationsirrtum und nicht einem Erklärungsirrtum des Bietenden auszugehen ist. Offensichtlich hatte die Klagepartei bei der Abgabe ihres Angebots einfach Kilogramm und Tonne verwechselt, eine Verwechslung, die unter Umständen auch auf einem Erklärungsirrtum beruhen kann. Die Verwechslung von Maßeinheiten dürfte sich in vielen Fällen als Irrtum in der Erklärungshandlung darstellen, der ein Anfechtungsrecht begründet (vgl. im Einzelnen: Kleine-Möller/Merl, Handbuch des Privaten Baurechts, 4. Aufl. 2009, Rn. 433).

Im vorliegenden Fall ist der BGH allerdings mit den Instanzen von einem Kalkulationsirrtum ausgegangen, also einem Fehler, der letztlich seine Ursache in einem Irrtum bei der Preisermittlung hat und der eine Anfechtung nicht rechtfertigt (Kleine-Möller/Merl, Handbuch des Privaten Baurechts, Rn. 412 ff.).

Die zentrale Argumentation des X. Zivilsenats in der hier besprochenen Entscheidung im Zusammenhang mit § 241 Abs. 2 BGB erinnert an die Wertung einer neueren Entscheidung des VII. Zivilsenats. Dieser hatte in seinem Urteil vom 14.05.2014 (VII ZR 334/12 - NJW 2014, 2100) einen ähnlichen Gedanken der Rücksichtnahme bei Annahme eines Angebots im Bauvertragsrecht aus dem Grundsatz von Treu und Glauben hergeleitet: Die Grundsätze von Treu und Glauben erfordern nach Auffassung des VII. Zivilsenats, dass der Empfänger eines Vertragsangebotes seinen davon abweichenden Vertragswillen in der Annahmeerklärung klar und unzweideutig zum Ausdruck bringt. Dahinter steckt der Gedanke: Der Empfänger einer Willenserklärung soll keinen Vorteil daraus ziehen, dass er in Kenntnis eines Angebots eine etwa abweichende Annahme dem Anbietenden versteckt unterschiebt. Der daraus herzuleitende Grundsatz, dass bei Annahme und Angebot fair zu verfahren ist, entspricht auch der Wertung des Rücksichtnahmegebots nach § 241 Abs. 2 BGB im vorliegenden Fall und grundsätzlich dem Gebot der Kooperation im Bauvertrag. Es widerspricht Treu und Glauben und dem Rücksichtnahmegebot, also sowohl den Vorschriften des § 242 BGB als auch § 241 Abs. 2 BGB, wenn ein Auftraggeber ein Versehen bzw. einen Fehler des Anbietenden, an einer Ausschreibung Beteiligten erkennend, diesen in Kenntnis des Versehens an seinem an sich nicht zur Anfechtung berechtigenden Kalkulationsirrtum festzuhalten versucht, obwohl er, der vergebende Auftraggeber, zuvor eindeutig auf diesen Fehler hingewiesen worden ist und dessen gravierende Auswirkungen erkennt.