jurisPR-BGHZivilR 20/2012 Anm. 3
Widerruf der Stimmabgabe beim WEG-Beschluss
Anmerkung zu BGH 5. Zivilsenat, Urteil vom 13.07.2012 - V ZR 254/11
von Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, RA BGH Leitsatz
Die in der Eigentümerversammlung abgegebene Stimme kann nach ihrem Zugang bei
dem Versammlungsleiter nicht mehr widerrufen werden.
A. Problemstellung
Kann die Stimmabgabe eines Wohnungseigentümers in der
Wohnungseigentümerversammlung widerrufen werden? Wie verhält es sich mit einer
auf Stimmzetteln abgegebenen Abstimmung? Wann ist gegebenenfalls eine
Stimmabgabe unwiderruflich?
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Parteien sind Mitglieder einer Wohnungseigentümergemeinschaft. Sie streiten
über die Wirksamkeit von Stimmabgaben und Beschlussfassungen in einer
Eigentümerversammlung. Ein Beschlusspunkt war das Petitum der Verwaltung, eine
Zusatzvergütung für die Aufarbeitung der Verwaltungsunterlagen zu erhalten. Die
Beiratsvorsitzende öffnete die von den Wohnungseigentümern abgegebenen
Stimmzettel. Die Verwalterin trug die ihr mitgeteilten Ergebnisse in eine
Excel-Tabelle ein. Zwei Wohnungseigentümer, die auf ihren bereits abgegebenen
Stimmzetteln zunächst „nein“ angekreuzt hatten, änderten zu einem zwischen den
beiden Parteien strittigen Zeitpunkt unter Rückforderung ihrer Stimmzettel die
Nein-Stimme in eine Ja-Stimme und eine Enthaltung ab. Eine Beweisaufnahme durch
Zeugen in der ersten Instanz brachte keine Klarheit über die Frage, ob es
bereits zu einer Verkündung der Ablehnung unter Berücksichtigung der
Nein-Stimmen gekommen war oder nicht. Jedenfalls verkündete die
Versammlungsleiterin unter Berücksichtigung der veränderten Stimmen („Ja“ und
„Enthaltung“) den Antrag als angenommen.
Das Amtsgericht hat der dagegen gerichteten Anfechtungsklage eines
Wohnungseigentümers stattgegeben. Auf die in der Beweisaufnahme unklar
gebliebene Frage, ob es bereits einen ablehnenden Beschluss gegeben habe, komme
es nicht an. Denn der Widerruf der Stimmabgabe sei nicht möglich. Der positive
Beschluss sei daher nicht wirksam zustande gekommen.
Das Landgericht hat demgegenüber die Anfechtungsklage abgewiesen, jedoch die
Revision zugelassen. Nach Auffassung des Berufungsgerichts kann die Stimmabgabe
bis zur Feststellung und Verkündung eines Beschlussergebnisses widerrufen
werden. Die Vorschrift des § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB (Gebundenheit an den Antrag)
sei auf eine Stimmabgabe nicht anwendbar. Diese Vorschrift schütze das Vertrauen
in den Bestand von zugegangenen Willenserklärungen. Ein entsprechender Schutz
sei bei der Stimmabgabe in der Wohnungseigentümerversammlung nicht notwendig.
Denn ein Beschluss komme rechtwirksam erst mit Feststellung und Verkündung des
Beschlussergebnisses zustande. Da die Zeugenaussagen in der ersten Instanz
kontrovers blieben, hätten die Kläger nicht beweisen können, dass vor
Rückforderung der Stimmzettel bereits ein (negatives) Beschlussergebnis
verkündet worden war. Das Berufungsgericht habe sich keine Überzeugung darüber
bilden können, welche der für sich genommenen glaubhaften Aussagen der Zeugen,
die in erster Instanz vor dem Amtsgericht angehört worden waren, der Wahrheit
entspreche.
Der BGH hält das Berufungsurteil für unzutreffend. Er hebt auf die
zugelassene Revision das Berufungsurteil auf und verweist die Angelegenheit zur
neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurück.
Die von den Wohnungseigentümern abgegebenen Einzelstimmen seien
empfangsbedürftige Willenserklärungen gegenüber dem Versammlungsleiter. Auf
diese finden die allgemeinen zivilrechtlichen Regeln Anwendung (Senatsbeschl. v.
19.09.2002 - V ZB 37/02 - BGHZ 152, 63, 67). Der BGH folgert: Die in der
Eigentümerversammlung unter Anwesenden abgegebene Stimme wird entsprechend § 130
Abs. 1 Satz 1 BGB wirksam, wenn der Versammlungsleiter sie zur Kenntnis nimmt.
Dafür zitiert der Senat die Entscheidung des BGH vom 25.01.1989 (IVb ZR 44/88),
die sich mit der Beweislast desjenigen beschäftigt, der die Wirksamkeit eines
schwebend unwirksamen Vertrages bestreitet und seine Vertragserklärung nach §
109 BGB widerrufen hat. Die dort entschiedene Frage der Beweislast besagt
allerdings nichts für die Lösung des Problems, bis wann eine abgegebene
Erklärung widerrufen werden kann. Der BGH scheint dazu die Auffassung zu
vertreten, dass eine mündlich abgegebene Erklärung, die der Versammlungsleiter
zur Kenntnis genommen hat, nicht mehr widerrufen werden kann. Im vorliegenden
Fall ging es allerdings um die schriftliche Abstimmung mit Stimmzetteln. In
diesen Fällen liegt ein den Widerruf ausschließender Zugang vor, wenn diese
Stimmzettel durch Übergabe in den Herrschaftsbereich des Versammlungsleiters
geraten (BGH, Urt. v. 15.06.1998 - II ZR 40/97 - NJW 1998, 3344). Waren also –
wie hier – die beiden später geänderten Stimmzettel mit der Abgabe des
ausgefüllten Stimmzettels den von der Versammlungsleiterin mit der Auszählung
betrauten Personen zugegangen, waren die Erklärungen unwiderruflich wirksam. Auf
den Zeitpunkt der Verlesung der Stimmzettel und die Eintragung des
Stimmergebnisses in die Excel-Tabelle kommt es nach Auffassung des V.
Zivilsenats nicht an.
C. Kontext der Entscheidung
Der BGH teilt nicht die von einigen Stimmen in der Literatur vertretene
Auffassung des Berufungsgerichts, auch nach dem Zugang könne die Stimmabgabe auf
dem Stimmzettel noch widerrufen werden (Erman/Grziwotz, BGB, 13. Aufl., § 23 WEG
Rn. 2). Er zitiert die herrschende Meinung, wonach ein Widerruf nach § 130 Abs.
1 Satz 2 BGB nur bis zum Zugang beim Versammlungsleiter in Betracht kommt (Merle
in: Bärmann WEG, 11. Aufl., § 23 Rn. 31; Staudinger/Bub, BGB, 2005, § 23 WEG Rn.
69; Wenzel in: Immobilienrecht 2002, 23, 28; Müller, ZWE 2000, 237, 245;
Armbruster, ZWE 2000, 455, 456). Der Senat folgt nicht der Auffassung, die
Stimmabgabe könne noch bis zur Feststellung und Verkündung des Beschlusses
widerrufen werden (Elzer in: Jennißen, WEG, 3. Aufl., vor §§ 23-25 Rn. 47),
sondern folgt mit ausführlicher und überzeugender Begründung der herrschenden
Meinung. Eine Parallele zu der anders geregelten Bindungswirkung im Rahmen der
§§ 929, 873 Abs. 2 BGB (keine Bindung mit Zugang von Erklärungen) hält der BGH
nicht für zutreffend. Denn dort geht es um den Schutz des Handelnden vor
übereilten und leichtfertigen Verfügungen über Grundstücksrechte (BGH, Urt. v.
25.01.1967 - V ZR 172/65 - BGHZ 46, 398, 399). Das lasse sich nicht auf die
Stimmabgabe in Eigentümerversammlungen übertragen. Überzeugend weist der BGH
darauf hin, dass gerade bei größeren Wohnungseigentümerversammlungen
Verwirrungen entstehen könnten, wenn man einen Widerruf der Stimmabgabe bis zur
Verkündung des Beschlussergebnisses zuließe.
D. Auswirkungen für die Praxis
Die überzeugende Auffassung des BGH ist praxisgerecht. Ließe man einen Widerruf
der schriftlich abgegebenen Stimmen auf einem Stimmzettel zu, wäre das Chaos bei
der Auszählung von Stimmabgaben, besonders bei großen
Wohnungseigentümerversammlungen, vorprogrammiert. Außerdem könnten wankelmütige
Wohnungseigentümer einen Dominoeffekt auslösen, was vor allem bei größeren
Veranstaltungen zu immer neuen Auszählungen und damit nicht nur zu totaler
Verwirrung, sondern unter Umständen auch zu Unmöglichkeit nachvollziehbarer
Beschlussfassungen führen könnte. Der Umstand, dass ein Beschluss konstitutiv
erst mit Feststellung und Verkündung des Beschlussergebnisses zustande kommt,
lässt keinen Schluss auf die Widerruflichkeit der Willenserklärung (Stimmabgabe)
zu. Denn die Wirksamkeit des Beschlusses ist von der Wirksamkeit und
Gebundenheit an die Stimmabgabe zu unterscheiden. Ähnliches gilt ja auch beim
Abschluss eines Vertrages. Ein Vertrag kommt auch erst durch Angebot und Annahme
und deren Zugang (Ausnahme § 151 BGB) zustande. Zustandekommen oder Scheitern
eines Vertrages lassen aber nicht darauf schließen, dass die Gebundenheit an die
Willenserklärung des Angebots ausgeschlossen wäre. Ebenso ist es hier: Dass ein
Beschlussergebnis erst mit Verkündung wirksam wird, schließt Gebundenheit an die
Stimmabgabe ebenso wie bei der Willenserklärung nicht aus.
Ergebnis:
Wer in einer Wohnungseigentümerversammlung einen Stimmzettel ausgefüllt und bei
den zuständigen Personen abgegeben hat, kann nicht zurück.
E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Ein weiterer Fehler des Berufungsgerichts, den der BGH anspricht, hat sich
letztlich aufgrund der Entscheidung für die herrschende Meinung (Gebundenheit an
die Stimme) nicht ausgewirkt. Im vorliegenden Fall hatte das Amtsgericht sich
zur Glaubwürdigkeit der Zeugen in dem vom Berufungsgericht für erheblich
angesehenen Punkt nicht geäußert, weil es die zutreffende Auffassung vertreten
hatte, dass die Stimmabgabe nicht widerrufen werden kann. Das Berufungsgericht
hätte von seinem Standpunkt aus, wonach die Stimmabgabe jedenfalls bis zur
Verkündung eines Beschlussergebnisses widerrufen werden kann, die in erster
Instanz zur Frage des Zeitpunkts der Beschlussfassung angehörten Zeugen erneut
vernehmen müssen. Wenn es – wie hier – für die Beurteilung einer Zeugenaussage
auf die Glaubwürdigkeit der Zeugen ankommt, kann ein Berufungsgericht die
Zeugenaussagen nicht auf ihre Glaubwürdigkeit auswerten, ohne die Zeugen erneut
gehört zu haben, Vielmehr ist das Berufungsgericht in einem solchen Fall nach
den §§ 529 Abs. 1 Nr. 1, 398 Abs. 1 ZPO gehalten, erstinstanzlich vernommene
Zeugen erneut zu vernehmen.
Ausgehend von der abweichenden Auffassung des Berufungsgerichts wäre es auf
den Zeitpunkt des Widerrufs und der Beschlussfassung angekommen, zu der es in
erster Instanz kontroverse Zeugenaussagen gegeben hatte. Da dem Berufungsgericht
objektive Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der einen oder anderen Aussage
fehlten, war insoweit entscheidend die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der
Zeugen. Die Glaubwürdigkeit kann aber nur ein Richter ermitteln, der den Zeugen
(erneut) vernommen und sich einen eigenen unmittelbaren Eindruck verschafft hat
(BGH, Urt. v. 08.02.1985 - V ZR 253/83 - NJW-RR 1986, 285, 286). Dieser
Verfahrensfehler hätte ebenfalls zur Aufhebung der Berufungsentscheidung führen
müssen. Angesichts der bereits aus materiell-rechtlichen Gründen erfolgten
Aufhebung kommt es allerdings nach Auffassung des BGH auf diesen Gesichtspunkt
nicht mehr an.
In Wohnungseigentumssachen ist die Revision nur zulässig, wenn sie vom
Berufungsgericht zugelassen wurde. Was in der Praxis häufig übersehen wird: § 62
Abs. 2 WEG schließt bei sogenannten Binnenstreitigkeiten
(Wohnungseigentumssachen nach § 43 Nr. 1-4 WEG, also insbesondere internen
Beschlussverfahren der Wohnungseigentümergemeinschaft) die
Nichtzulassungsbeschwerde aus, wenn die anzufechtende Entscheidung vor dem
31.12.2014 verkündet worden ist (Zeitraum verlängert durch Art. 2 des Gesetzes
zur Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes vom 10.05.2012, BGBl I 2012, 1084).
Binnenstreitigkeiten nach WEG gelangen also nur dann zum BGH, wenn die Revision
zugelassen ist. |