jurisPR-BGHZivilR 15/2009 Anm. 2

Keine Aussetzung eines Rechtsstreits wegen fehlerhafter Anlageberatung nach § 7 KapMuG

Anmerkung zu BGH 11. Zivilsenat, Beschluss vom 16.06.2009 - XI ZB 33/08
Dr. Barbara Genius, Rechtsanwältin beim Bundesgerichtshof

Leitsatz
1. Auf Rechtsstreitigkeiten wegen fehlerhafter Anlageberatung, in denen kein zulässiger Musterfeststellungsantrag nach § 1 Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) gestellt werden kann, findet § 7 Abs. 1 KapMuG keine Anwendung.
2. Werden solche Rechtsstreitigkeiten trotzdem unter Berufung auf § 7 Abs. 1 Satz 1 KapMuG ausgesetzt, ist gegen den Aussetzungsbeschluss das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde gemäß § 252, § 567 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gegeben, weil der Rechtsmittelausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 4 KapMuG ebenfalls keine Anwendung findet.

A. Problemstellung
Die Entscheidung betrifft die Frage, ob Rechtsstreitigkeiten, in denen ein Musterfeststellungsantrag nach § 1 Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) unzulässig ist, nach § 7 KapMuG ausgesetzt werden können und welche Rechtsmittel gegen den Aussetzungsbeschluss gegeben sind.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger nimmt die beklagte Bank auf Schadensersatz wegen fehlerhafter Anlageberatung im Zusammenhang mit seiner Beteiligung an einem Filmfonds in Anspruch. Er macht geltend, dass die Beklagte in mehrfacher Weise ihre Pflicht zu anleger- und anlagegerechter Beratung nicht erfüllt habe. Das LG München I hat den Rechtsstreit gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 KapMuG ausgesetzt im Hinblick auf ein beim OLG München anhängiges und öffentlich bekannt gemachtes Kapitalanlieger-Musterverfahren, das einzelne Fragen zur Richtigkeit und Vollständigkeit des für den betreffenden Fonds herausgegebenen Prospekts zum Gegenstand hat. Die dagegen gerichteten sofortigen Beschwerden beider Parteien hat das OLG München als unzulässig verworfen, da der Aussetzungsbeschluss gemäß § 7 Abs. 1 Satz 4 KapMuG keinem Rechtsmittel unterliege. Auf die vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerden beider Parteien hat der BGH den Verwerfungsbeschluss des Oberlandesgerichts und den Aussetzungsbeschluss des Landgerichts aufgehoben.

Der XI. Zivilsenat hat entschieden, dass das Landgericht den Rechtsstreit nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 1 KapMuG hätte aussetzen dürfen und § 7 Abs. 1 Satz 4 KapMuG der Statthaftigkeit der Beschwerde nicht entgegensteht, da die gesamte Vorschrift des § 7 KapMuG von vornherein nur solche Streitigkeiten erfasst, in denen zulässigerweise ein Musterfeststellungsantrag gestellt werden kann. Dies ist bei Schadensersatzansprüchen der Fall, wenn diese auf eine falsche, irreführende oder unterlassene öffentliche Kapitalmarktinformation gestützt werden (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KapMuG). Demgegenüber ist ein Musterverfahren bei Rechtsstreitigkeiten, in denen – wie hier – Schadensersatzansprüche wegen einer fehlerhaften individuellen Anlageberatung geltend gemacht werden, nicht zulässig, auch wenn zur Beratung ein fehlerhafter Prospekt herangezogen worden ist. Ein Rechtsstreit, in dem ein Musterfeststellungsantrag nach diesen Grundsätzen als unzulässig zurückgewiesen werden müsste, kann nicht über die Aussetzung nach § 7 KapMuG in das Musterverfahren einbezogen werden. Eine erweiterte Auslegung des § 7 Abs. 1 KapMuG widerspricht Sinn und Zweck der Regelung, ist mit der Systematik des Gesetzes nicht vereinbar und findet auch in der Entwurfsbegründung keine tragfähige Stütze. Die Entscheidung des Landgerichts über die Aussetzung ist nach den allgemeinen Vorschriften mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar (§§ 252, 567 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).

§ 7 Abs. 1 Satz 4 KapMuG, der die Unanfechtbarkeit des Aussetzungsbeschlusses anordnet, findet auf das Streitverhältnis der Parteien ebenfalls keine Anwendung. Soweit das Landgericht die Aussetzung auch auf § 148 ZPO gestützt hat, fehlt es an der insofern erforderlichen Vorgreiflichkeit des Musterverfahrens für den vorliegenden Rechtsstreit.

C. Kontext der Entscheidung
Mit dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz hat der Gesetzgeber Neuland betreten und erstmals ein Instrument zur Bündelung gleichgerichteter Interessen und Ansprüche geschädigter Kapitalanleger durch die Führung von Musterverfahren geschaffen, in denen die wichtigsten Tatsachen- und Rechtsfragen mit bindender Wirkung für sämtliche Kläger geklärt werden. Das Gesetz soll nach dem gesetzgeberischen Willen vor allem den Rechtsschutz der Anleger verbessern, aber auch der Entlastung der Gerichte dienen (vgl. BT-Drs. 15/5091, S. 1, 16 f.).

Die Regelung in § 7 KapMuG ist eine der zentralen Vorschriften für die angestrebte Verfahrensbündelung. Erst der in jedem einzelnen Verfahren erlassene Aussetzungsbeschluss „bündelt“ die Ausgangsverfahren im Musterverfahren (vgl. Vorwerk/Wolf/Fullenkamp, KapMuG, § 7 Rn. 1). Dabei verlangen nach der Vorstellung des Gesetzgebers die Ziele des Gesetzes, dass nach Möglichkeit alle Parteien, die an einem Prozess beteiligt sind, für dessen Ausgang die Musterfrage von Relevanz ist, in das Musterverfahren einbezogen werden. Die Beteiligung am Musterverfahren ist deshalb nicht freigestellt. Vielmehr werden die betroffenen Verfahren von Amts wegen ausgesetzt. Die Aussetzung gilt zugleich als Beiladung zum Musterverfahren. Der Aussetzungsbeschluss ist unanfechtbar (vgl. Kruis in: KK-KapMuG, § 7 Rn. 1, 41).

§ 7 Abs. 1 KapMuG gibt den Gerichten damit ein weitreichendes und zugleich nicht unbedenkliches Instrument an die Hand (vgl. kritisch Kruis in: KK-KapMuG, § 7 Rn. 2, 10 ff., 41 ff.). Gegenstand der Entscheidung des XI. Zivilsenats war die Aussetzung eines Rechtsstreits wegen fehlerhafter Anlageberatung, welche die Instanzgerichte mit der Begründung auf § 7 Abs. 1 Satz 1 KapMuG gestützt haben, der Begriff der Beteiligtenfähigkeit sei weit auszulegen und beziehe alle Parteien in das Musterverfahren ein, für deren Rechtsverhältnisse das Feststellungsziel des Musterverfahrens von entscheidungserheblicher Bedeutung sei.

Der XI. Zivilsenat lehnt den „weiten“ Beteiligtenbegriff der Instanzgerichte ab und stellt – gewissermaßen in Einfügungen einer „ungeschriebenen Voraussetzung“ (Kruis in: KK-KapMuG, § 7 Rn. 10) – in aller Deutlichkeit klar, dass auf Rechtsstreitigkeiten wegen fehlerhafter Anlageberatung, in denen kein zulässiger Musterfeststellungsantrag nach § 1 KapMuG gestellt werden kann, § 7 Abs. 1 KapMuG keine Anwendung findet und ein trotzdem unter Berufung auf § 7 Abs. 1 Satz 1 KapMuG ergangener Aussetzungsbeschluss mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar ist, weil der Rechtsmittelausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 4 KapMuG ebenfalls nicht gilt.

Der Senat vertritt damit eine restriktive Auslegung und Anwendung des KapMuG. Sie werden flankiert durch die im Beschluss angeschnittene Frage, ob die generelle Unanfechtbarkeit des Aussetzungsbeschlusses gemäß § 7 Abs. 1 Satz 4 KapMuG verfassungsrechtlich unbedenklich ist vor dem Hintergrund, dass die rechtsfehlerhafte Beteiligung am Musterverfahren für die Beteiligten erhebliche, später nicht mehr kompensierbare Rechtsnachteile nach sich ziehen kann (vgl. Kruis in: KK-KapMuG, § 7 Rn. 45), sowie die Bestätigung der Rechtsprechung des BGH zu § 1 KapMuG, nach der Rechtsstreitigkeiten, in denen Schadensersatzansprüche wegen fehlerhafter Anlageberatung erhoben werden, von vornherein nicht Gegenstand eines Musterverfahrens gemäß § 1 KapMuG sein können, und zwar auch dann nicht, wenn sich die Haftung des Anlageberaters aus der Verwendung eines fehlerhaften Prospektes im Zusammenhang mit einer Beratung oder einer Vermittlung ergibt (BGH, Beschl. v. 10.06.2008 - XI ZB 26/07 Rn. 15 - BGHZ 177, 88; BGH, Beschl. v. 30.10.2008 - III ZB 92/07 Rn. 12,15 - WM 2009, 110 und BGH, Beschl. v. 04.12.2008 - III ZB 97/07 Rn. 15 ff.).

Ebenso überzeugt die enge Auslegung des § 7 Abs. 1 KapMuG: Die Zwangsbeteiligung am Musterverfahren gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 KapMuG ist den Parteien nur zumutbar, wenn sie auch die Vorteile aus dem Musterverfahren haben. Daran fehlt es in Verfahren, in denen kein zulässiger Musterfeststellungsantrag gestellt werden kann und zu denen Rechtsstreitigkeiten wegen fehlerhafter Anlageberatung gehören. Ein bei der Beratung verwendeter fehlerhafter Prospekt führt nämlich nicht notwendig zur Haftung des Anlageberaters, ein fehlerfreier Prospekt schließt seine Haftung nicht notwendig aus. Es besteht lediglich eine – von den Instanzgerichten angeführte (vgl. OLG München, Beschl. v. 30.09.2008 - 19 U 3510/08 - WM 2009, 113) – Identität der im Musterverfahren zu klärenden Rechtsfrage oder der zu treffenden Feststellung über das Vorliegen einzelner Anspruchsvoraussetzungen, nicht aber eine Gleichrichtung der Interessen i.S.d. KapMuG.

Steht aber die Entscheidungserheblichkeit des Ausgangs des Musterverfahrens für den Rechtsstreit nicht fest, ist es einem Kläger nicht zuzumuten, dass sein wegen fehlerhafter Anlageberatung geführter Prozess ausgesetzt wird und er unter zusätzlicher Kostentragung und möglicherweise erhebliche, nicht mehr kompensierbare Rechtsnachteile nach sich ziehender Verfahrensverzögerung auf unabsehbare Zeit das Ergebnis des Musterverfahrens abwarten muss. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes der Partei unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des KapMuG geht in einem solchen Fall etwaigen Entlastungsinteressen der Gerichte vor und verbietet eine Erweiterung der Zwangsaussetzungswirkung des § 7 Abs. 1 KapMuG.

D. Auswirkungen für die Praxis
Für die Praxis ist der Beschluss insbesondere mit Blick auf den Rechtsschutz gegen einen fehlerhaften Aussetzungsbeschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 1 KapMuG von Bedeutung. Der Beschluss stellt klar, dass die durch § 7 Abs. 1 Satz 4 KapMuG angeordnete Unanfechtbarkeit des Aussetzungsbeschlusses dann nicht gilt, wenn es sich um einen Beschluss handelt, der ein nicht „vorlagefähiges“ Verfahren aussetzt. Denn in diesem Fall finden die Vorschriften des KapMuG von vornherein keine Anwendung, so dass eine Aussetzung nicht möglich ist. Beschließt das Gericht gleichwohl eine Aussetzung, können die Parteien eine Überprüfung des Aussetzungsbeschlusses im Wege der sofortigen Beschwerde erreichen (§§ 252, 567 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Dieser Weg ist allerdings ausgeschlossen, wenn es sich um den Aussetzungsbeschluss eines Oberlandesgerichts handelt (§ 567 Abs. 1 ZPO), da die sofortige Beschwerde nur gegen erstinstanzliche Entscheidungen der Amts- und Landgerichte, nicht aber der Oberlandesgerichte statthaft ist. Die Statthaftigkeit einer Rechtsbeschwerde gegen einen solchen Beschluss richtet sich danach, ob das Oberlandesgericht sie zugelassen hat (§ 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO), da das KapMuG diese Möglichkeit nicht eröffnet.