ZAP Kolumne 2011, Seite 1019

ZAP Kolumne

Erkenntnisresistent
Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof

Alle vom Rechtsausschuss des Bundestages angehörten Sachverständigen, der Rechtsausschuss des Bundestages, die Abgeordneten des Bundestages und die gesamte Anwaltschaft sind sich einig: Die Regelung des § 522 Abs. 2 ZPO ist wegen der eklatanten Rechtszersplitterung und der Ungerechtigkeit, die diese Vorschrift mit sich gebracht hat, dringend reformbedürftig. Deshalb hat der Bundestag am 7. 7. 2011 die Einführung einer Nichtzulassungsbeschwerde gegen die Beschlusszurückweisung beschlossen.

Davon unbeirrt und erkenntnisresistent gegen die evidenten Gerechtigkeitsdefizite des Beschlussverfahrens hielt der Rechtsausschuss des Bundesrates (Drucks. 485/1/11, Sitzung v. 12.9. 2011) im Wesentlichen an der bisherigen Fassung der Beschlusszurückweisung fest.

Demgemäß empfahl er am 12. 9. 2011 dem Bundesrat mit Mehrheit, zum Gesetzesbeschluss der Bundesregierung vom 7. 7. 2011 in Bezug auf die Änderung des § 522 Abs. 2 ZPO den Vermittlungsausschuss anzurufen. Er hielt die Einführung einer Nichtzulassungsbeschwerde nach dem vom Bundestag beschlossenen Gesetz (§ 522 Abs. 3 ZPO) für überflüssig. Entscheidendes Kriterium für die Beschlusszurückweisung —so der Rechtsausschuss des Bundesrates — müsse sein, dass ausgeschlossen werden kann, dass in einer mündlichen Verhandlung noch in zulässiger Weise Argumente vorgebracht werden können, die der Berufung zum Erfolg verhelfen können. Das -so der Bundesratsausschuss- sei aber der Fall, wenn das Berufungsgericht zu dem sicheren Ergebnis kommt, dass die Berufung unbegründet ist, unabhängig davon, ob dies „offensichtlich" der Fall ist oder nicht.

Die Überlegung beruht auf dem üblichen Zirkelschluss der Verwechslung von früher und später („hysteron/proteron"). Ob eine Berufung wirklich begründet ist oder nicht, lässt sich zuverlässig erst nach Beendigung der mündlichen Verhandlung und dann anschließender Beratung des Spruchkörpers feststellen. Es ist niemals auszuschließen, dass in der mündlichen Verhandlung Argumente vorgebracht werden, die die Berufung doch noch aussichtsreich erscheinen lassen können. Das von vornherein als unmöglich anzusehen, nur weil die Richter einstimmig zum Zeitpunkt der Beschlussfassung oder des Hinweisbeschlusses davon überzeugt sind, dass die Berufung unbegründet ist, beruht auf einem evidenten Gedankenfehler, weil zum maßgebenden Zeitpunkt nicht bekannt sein kann, was in der mündlichen Verhandlung ggf. noch vorgetragen werden wird.

Allerdings: Die Hoffnung der Bundestagsabgeordneten, man könne durch Einführung einer Ermessensentscheidung für die Wahl des Beschlussverfahrens die bundesweit uneinheitliche Praxis bekämpfen, ist vom Denkansatz verfehlt. Vorstellbar ist allerdings, dass mancher Berufungsrichter im Rahmen der Rechtsmittelfähigkeit auf Grund des unbequem erhöhten Begründungsaufwandes seine Neigung zur exzessiven Anwendung der Beschlusszurückweisung verliert und damit § 522 Abs. 2 ZPO seine Bedeutung ganz oder teilweise einbüßt. Auch dann allerdings ist die Vorschrift auch in ihrer veränderten Fassung überflüssig. Gleichwohl bringt das vom Bundestag bereits beschlossene Gesetz mit der Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde eine Verbesserung der Rechtsstellung des Berufungsführers gegenüber dem bisherigen Rechtszustand.

Jeder im Prozessrecht tätige Anwalt kann ein Lied davon singen, wie unverständlich und unzuträglich in zahlreichen Fällen die Handhabung des § 522 Abs. 2 ZPO in der Praxis vonstatten geht. Das gilt nicht nur für den bekannten Fall von DEIKE HOLWEG (www.522zpo.de). Weitere Beispiele sind Prozesse von Fondsanlegern seit Beginn der 90er Jahre, die dann nach Inkrafttreten der Beschlussregelung des § 522 Abs. 2 ZPO in die Berufung gelangt sind. Dort haben die Berufungsgerichte in Hunderten von Verfahren vollständig kontrovers entschieden, und zwar teils durch Zurückweisung nach § 522 Abs. 2 ZPO, teils durch mündliche Verhandlungen und Beweisaufnahmen im Ergebnis ebenso für oder gegen den Berufungsführer und zum Teil auch mit der Zulassung der Revisionen. Dabei handelt es sich um absolut parallel liegende Fälle, die sich in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nicht unterscheiden. Es kann nur Betroffenheit auslösen, wenn in einem Prozess der Berufungsführer obsiegt, im anderen gegen das Berufungsurteil die Revision zugelassen und im dritten vollkommen gleich gelagerten Fall die Berufung nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen wird. Die vom Bundestag beschlossene Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde kann eine derart evident verfehlte Anwendung des Beschlussparagraphen durch mehrere Berufungsgerichte möglicherweise eindämmen, jedoch nicht vollständig verhindern. Die Überprüfbarkeit der Berufungsentscheidung wird die Berufungsgerichte vielleicht zu erhöhter Sorgfalt motivieren und vielleicht damit die gröbsten Gerechtigkeitsdefizite verringern, wenngleich die Rechtszersplitterung durch die vom Bundestag beabsichtigte Ermessensregelung im Ergebnis nicht erfolgreich bekämpft werden kann.

Unverändert hat der Rechtsausschuss des Bundesrates seine Augen vor den Ungerechtigkeiten verschlossen, die die oft missbräuchliche Anwendung des Beschlussverfahrens für die Parteien mit sich gebracht hat. Anwälte und Rechtssuchende werden mit Betroffenheit konstatieren, dass offenbar die Arbeitsersparnis des Richters auf dem Rücken der Prozessbeteiligten den Mitgliedern des Rechtsausschusses des Bundesrates wichtiger erscheint als das rechtliche Gehör und die richtig und vollständig begründete Entscheidung.

Der Bundesrat ist überraschend am 23. 9. 2011 der Empfehlung seines Rechtsausschusses nicht gefolgt. Er hat den Vermittlungsausschuss nicht angerufen, sodass das Gesetz zur Änderung des § 522 ZPO in Kraft treten kann. Statt eines „gläsernen Herzen" ein „hörendes Herz" oder Pragmatismus, weil ja angesichts der Mehrheitsverhältnisse doch nichts mehr zu ändern ist? Jedenfalls hat die Länderkammer das Gesetz passieren lassen. Damit wird die Neuregelung für alle Beschlüsse gelten, die nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes gefällt werden. Es ist erfreulich, dass die Länderkammer sich den Fehlvorstellungen ihres Rechtsausschusses widersetzt, und sich der besseren, wenngleich nicht wirklich guten Lösung des Bundestags angeschlossen hat. Diese bestünde unverändert in der vollständigen Abschaffung des Beschlussverfahrens (vgl. REINELT ZAP Kolumne 2011, S. 707: „Das vorläufige Ende der unendlichen Geschichte"), auf die man vielleicht in der nächsten Legislaturperiode noch hoffen kann.