ZAP Kolumne 2011, Seite 339

ZAP Kolumne

Blockiert der Gesetzgeber den BGH?
Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof

Vor dem Jahre 2002 konnte der BGH (zulassungsfrei) bei einer Beschwer über 60.000 DM angerufen werden. Mutiert der BGH neuerdings zum Fachgericht für kleine Streitwerte? Der Gesetzgeber hat mit der Regelung des FamFG v. 17. 12. 2008 (BGBl. 2008 I, S. 2586) zulassungsfreie Rechtsbeschwerden nach § 70 Abs. 3 FamFG eingeführt, die — anders als die bisherige weitere Beschwerde — nicht beim Oberlandesgericht, sondern beim Bundesgerichtshof eingelegt werden müssen. In diesen Fällen ist in Betreuungs-, Unterbringungs- und Freiheitsentziehungssachen eine Rechtsbeschwerde zulässig, ohne dass die Voraussetzungen (grundsätzliche Bedeutung, Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung oder Notwendigkeit der Rechtsfortbildung) vorliegen müssen, die sonst für Rechtsbeschwerden nach § 574 ZPO als Zulassungsvoraussetzungen vorgeschrieben sind.

Das hat zur Konsequenz: Der BGH wird mit unzähligen Fällen von Rechtsbeschwerden ohne jede grundsätzliche Bedeutung überzogen. Beispiele aus der Praxis zulassungsfreier Rechtsbeschwerden, wie sie häufig vorkommen:

Ein psychisch erkrankter Betreuter wehrt sich gegen notwendige medizinische Untersuchungen und Begutachtungen mit der Begründung, die christlichen Konfessionen, der Teufel und die medizinische Wissenschaft hätten sich zusammengeschlossen, um ihn seiner Menschenwürde zu berauben. Innerhalb eines halben Jahres erhält unsere Kanzlei 50 E-Mails ähnlichen Inhaltes und eine nahezu gleiche Zahl von Telefonaten. Der BGH hat (oft für die gleichen Beschwerdeführer mehrfach) über die Frage der Anordnung einer Betreuung mit dem Ziel medizinischer Untersuchungen zu entscheiden.

Ein typischer Fall aus der Praxis der Freiheitsentziehungs- oder Abschiebungssachen: Ein Ausländer, dessen Asylantrag abgelehnt wurde, wird in Abschiebungshaft genommen und schließlich in sein Heimatland abgeschoben. Mit einer nach der Rechtsprechung zulässigen Fortsetzungsfeststellungsklage will er nachträglich die Rechtswidrigkeit dieser Aktion bestätigt wissen. Der begehrte Feststellungsausspruch ist dann Grundlage für Schadenersatzansprüche, wobei der Schadenersatz i. d. R. dazu dient, die Kosten der für ihn in den Instanzen tätigen Anwälte zu decken.

Soll den betroffenen Senaten des BGH auf Dauer eine Flut solcher Fälle zugemutet werden? Infolge der Neuregelung des § 70 Abs. 2 FamFG haben die Entscheidungen des BGH über Rechtsbeschwerden gegenüber dem früheren Zustand um über 40 %zugenommen. Sie beanspruchen in vergleichbaren Fällen die Arbeitskraft der BGH-Richter in den damit befassten Senaten in erheblichem Umfang. Das muss die Geschäftsverteilung ausgleichen. Andere Senate müssen Rechtsgebiete übernehmen, die die solcher Art überbelasteten Senate (gegenwärtig der V. und XII. Zivilsenat) neuerdings zu erledigen haben.

Gleichzeitig ist festzustellen, dass die Zulassungsquote der Revisionen bei Nichtzulassungsbeschwerden deutlich zurückgeht. Hier handelt es sich um Fälle, die oft nicht nur von wirtschaftlich und rechtlich, sondern auch existenziell erheblicher Bedeutung sind. Während früher die Zulassungsquote zwischen 18-20 % betrug, ist diese im Jahr 2010 auf rund 11 % gesunken. Ob die immer striktere Zurückweisungspraxis bei Nichtzulassungsbeschwerden mit der Überlastung des BGH aufgrund zulassungsfreier Rechtsbeschwerden zusammenhängt? Das lässt sich nicht ohne Weiteres belegen aber vermuten. Für die Rechtsentwicklung wäre es fatal. Wenn immer mehr Nichtzulassungsbeschwerden mit der tautologischen Pauschalbegründung des Gesetzes — auf freilich zulässige, aber für den Rechtssuchenden unbefriedigende Weise — zurückgewiesen werden („Von einer Begründung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist, § 544 Abs. 4 S. 2 ZPO"), oder wenn immer mehr Nichtzulassungsbeschwerden mit einer aus der Welt des Kartenspiels stammenden Kurzbegründung erfolglos bleiben („Dem Beschwerdeführer gelingt es nicht, einen Zulassungsgrund aufzudecken"), dient dies weder der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung und der Rechtsfortbildung, noch dem Rechtsfrieden, der durch nachvollziehbare Entscheidungen gesichert werden soll.

Diese Entwicklung ist mit Rücksicht auf die bedeutsamen Aufgaben des BGH zur Sicherung und Entwicklung der Rechtsprechung höchst unglücklich. Um die Funktionsfähigkeit des BGH sicherzustellen, sollte der Gesetzgeber darüber nachdenken, die zulassungsfreien Rechtsbeschwerden in Betreuungs-, Unterbringungs- und Freiheitsentziehungssachen nach § 70 Abs. 2 FamFG wieder den Oberlandesgerichten zu übertragen. Diese sind nämlich in der Vergangenheit ausreichend entlastet worden (vgl. dazu REINELT, Überlastung der Richter im Zivilprozess?, ZAP-Kolumne 6/2010, S. 243). Ich habe diesen Vorschlag der Bundesjustizministerin schriftlich unterbreitet. Sie hat geantwortet:

„Ihren Vorschlag, die zulassungsfreien Rechtsbeschwerden in Betreuungs-, Unterbringungs- und Freiheitsentziehungssachen gem. § 70 FamFG den Oberlandesgerichten zuzuweisen, um den BGH zu entlasten, sehe ich skeptisch. Er würde den vor der FGG-Reform geltenden unbefriedigenden Zustand wiederherstellen. Der beim Oberlandesgericht endende Rechtsmittelzug hat zu einer Rechtszersplitterung in der Materie der freiwilligen Gerichtsbarkeit geführt. Problematisch ist auch, die zulassungsfreie Rechtsbeschwerde zu einem zulassungsabhängigen Rechtsmittel umzugestalten. Die zulassungsfreie Rechtsbeschwerde in diesem Bereich ist wegen der besonders intensiven Eingriffe in die Freiheitsrechte der Betroffenen eingeführt worden und dient daher dem Schutz höchstpersönlicher Rechtsgüter. Wegen ihrer Grundrechtsrelevanz sollte die Vorschrift nicht verändert werden."

Ist diese Argumentation wirklich überzeugend? Es kann nicht Aufgabe des BGH sein, unzählige Einzelfälle aus den genannten Gebieten zu entscheiden, bei denen rechtsgrundsätzliche Bedeutung oder die sonstigen Voraussetzungen einer Zulassung zu verneinen sind. Die einschränkungslose Zulassung dieser Rechtsbeschwerden führt zu einer immensen Belastung der damit befassten Senate des Bundesgerichtshofs, zum großen Teil auch durch Verfahren querulatorischer oder psychisch erheblich erkrankter Beschwerdeführer, jedenfalls durch Verfahren ohne jede rechtsgrundsätzliche Bedeutung. Einer möglichen Rechtszersplitterung auf diesem Gebiet könnte sicherlich — wie in anderen Rechtsgebieten auch — mit einer Rechtsbeschwerde Rechnung getragen werden, die—wie sonst — der Zulassung bedarf (§ 574 ZPO). Die Grundrechtsrelevanz, die die Bundesjustizministerin anspricht, macht keineswegs eine Befassung durch den Bundesgerichtshof erforderlich. Alle Gerichte, auch die keineswegs überlasteten Oberlandesgerichte, sind verpflichtet, die Grundrechte zu wahren und ihnen Geltung zu verschaffen.

Ich meine: Wenn die Funktionsfähigkeit des höchsten deutschen Zivilgerichts auf Dauer sichergestellt werden soll, wird kein Weg daran vorbeiführen, die überflüssige und unzumutbare Übertragung zulassungsfreier Rechtsbeschwerden auf den Bundesgerichtshof durch § 70 Abs. 2 FamFG wieder abzuschaffen. Sonst bleibt es tatsächlich dabei: Der Gesetzgeber blockiert den BGH.