ZAP Kolumne 2010, Seite 1195

ZAP Kolumne

Zu kurz gesprungen - die geplante Änderung des § 522 ZPO
Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof

Der am 18. 11.2010 vorgelegte Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums sieht folgende Änderungen des § 522 Abs. 3 ZPO vor:

„Gegen den Beschluss steht dem Berufungsführer das Rechtsmittel zu, das zulässig wäre, wenn das Gericht durch Urteil entschieden hätte."

Abs. 2 des § 522 ZPO soll wie folgt geändert werden:

„a) Satz 1 wird wie folgt gefasst:

Das Berufungsgericht hat die Berufung durch einstimmigen Beschluss unverzüglich zurückzuweisen, wenn es davon überzeugt ist, dass

  1. die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat,
  2. die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat,
  3. die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erfordert und
  4. eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich ist.

b) Folgender Satz wird angefügt:

Ein anfechtbarer Beschluss hat darüber hinaus eine Bezugnahme auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil mit Darstellung etwaiger Änderungen oder Ergänzungen zu enthalten."

Im Ergebnis wird damit die Nichtzulassungsbeschwerde gegen den einstimmigen Zurückweisungsbeschluss eingeführt. Sie ist nach § 26 Nr. 8 EGZPO — wie bei Urteilen — nur statthaft, wenn die Beschwer des unterlegenen Berufungsführers 20.000 € übersteigt.

Mit der Umformulierung des Abs. 2 („hat zurückzuweisen" statt „weist... zurück") soll noch einmal verdeutlicht werden, dass es sich um eine zwingende Regelung handelt, also Ermessen der Gerichte nicht besteht. Wenn die Voraussetzungen vorliegen, die im Einzelnen in Abs. 2 genannt sind, muss das Berufungsgericht — wie bisher — durch einstimmigen Beschluss entscheiden.

Im Referentenentwurf wird folgende Auffassung vertreten:

„Die uneinheitliche Anwendungspraxis der Berufungsgerichte verliert ihre Bedeutung. Außerdem wird mit einer deutlicheren Formulierung der zwingende Charakter des § 522 Abs. 2 ZPO unterstrichen. Schließlich muss das Berufungsgericht künftig einstimmig feststellen, dass die Sache keiner mündlichen Verhandlung bedarf, bevor es die Sache durch Zurückweisungsbeschluss entscheiden darf."

Die vorgeschlagene Änderung verbessert den gegenwärtigen Rechtszustand. Sie ist aber keine optimale Lösung. Die uneinheitliche Anwendungspraxis der Berufungsgerichte wird entgegen der Auffassung des Referentenentwurfs bleiben. Die Zulassung des Rechtsmittels mag dazu beitragen, dass die Gerichte mit dem sog. einstimmigen Beschluss sorgfältiger umgehen. Gleichwohl wird die regionale Praxis auch in Zukunft unterschiedlich sein.

Die Quote der Erledigung durch Zurückweisungsbeschlüsse auf der Ebene der Landgerichte bewegt sich zwischen 6,4 % im OLG-Bezirk Karlsruhe und 23,8 % im OLG-Bezirk Braunschweig, auf der Ebene der Oberlandesgerichte zwischen 9,1 % beim OLG Hamm und 27,1 % beim OLG Rostock (Mitteilung des BMJ v. 24. 11. 2010).

Diese Rechtszersplitterung wird die neue Regelung vielleicht mildern, aber nicht vollständig beseitigen. Wenn die Gerichte bisher entgegen dem Wortlaut des § 522 Abs. 2 ZPO von der Vorschrift nach Ermessen Gebrauch gemacht haben, werden sie das auch trotz der vorgesehenen substanzlosen Umformulierung weiterhin tun. Daran wird auch die Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde nichts ändern.

Die Begründung des Entwurfes führt aus: Zur beabsichtigten Neuregelung gibt es keine Alternative. Das ist nicht nachzuvollziehen. Natürlich gibt es eine Alternative, und zwar eine bessere: Streichung des § 522 Abs. 2 ZPO.

Nur diese Lösung würde die unerfreuliche regionale Rechtszersplitterung endgültig beseitigen. Entgegen der Befürchtung des Bundesjustizministeriums würde sie auch nicht zu einer unvertretbaren Mehrbelastung der Gerichte führen, jedenfalls mit Sicherheit nicht in größerem Umfang als die Realisierung des Referentenentwurfs.

Jährlich werden insgesamt durch Landgerichte und Oberlandesgerichte ca. 17.000 Fälle durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO entschieden. Davon erreichen ca. 4.000 Fälle die Statthaftigkeitsgrenze des § 26 Nr. 8 EGZPO. Geht man von der Quote aus, die ermittelt worden ist für Nichtzulassungsbeschwerden gegen Urteile (19,2 % im Jahr 2008, vgl. WOLF BRAK-Mitteilungen 2010, 194), kommen rund 760 Fälle jährlich zusätzlich zum Bundesgerichtshof. Das würde für die gegenwärtig 13 Zivilsenate des BGH bedeuten: Die Zusatzbelastung liegt bei unter 60 Fällen pro Jahr. Das sind weniger als fünf Fälle im Monat pro Senat. Angesichts der Quote für die Zulassung von Revisionen durch den BGH bedeutet das pro Senat einen zusätzlichen Fall, in dem mündlich verhandelt werden muss.

Die Mehrbelastung der Oberlandesgerichte durch mündliche Verhandlung in den Fällen, die bisher nach § 522 Abs. 2 ZPO entschieden worden sind, hält sich in Grenzen. Die Belastung der Oberlandesgerichte geht ohnehin — wie alle Statistiken ausweisen — seit Jahren ständig zurück.

Auch die im Referentenentwurf vorgesehene Ergänzung, wonach gem. § 522 Abs. 2 a Ziff. 4 ZPO ausdrücklich die einstimmige Feststellung verlangt werden soll, dass eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich ist, wird ebenfalls ohne praktische Auswirkung bleiben. Bereits bisher implizierte der einstimmige Zurückweisungsbeschluss die Überzeugung der mitwirkenden Richter, dass mündliche Verhandlung nicht erforderlich ist. Sonst hätten sie der Beschlusszurückweisung nicht zugestimmt.

Leider bleibt die vorgesehene Reform auf halbem Wege stehen. Sie bindet unnötig und überflüssig Justizressourcen in einem Umfang, der über die Mehrbelastung bei vollständiger Streichung des § 522 Abs. 2 ZPO hinausgeht.

Bei Erfolg des Rechtsmittels wird es zur Zurückverweisung des BGH an die Berufungsgerichte und damit zu einer neuen Befassung der Tatsacheninstanzen mit dem Sach- und Streitstoff kommen. Das führt nicht nur zu überflüssiger Belastung der Gerichte, sondern auch zu zeitlicher Verzögerung. Der vom Referentenentwurf beschworene Beschleunigungseffekt der bisherigen Praxis des § 522 Abs. 2 ZPO (über den sich allerdings durchaus trefflich streiten lässt), wird dadurch im Ergebnis wieder ausgehebelt.

Eine vollständige Streichung der einstimmigen Beschlusszurückweisung nach § 522 Abs. 2 ZPO würde den BGH nach meiner Überzeugung im Ergebnis nicht stärker belasten als die Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde.

Wenn man im Übrigen von vermeidbarer Mehrbelastung des BGH spricht, sollten die zulassungsfreien Rechtsbeschwerden in Betreuungs-, Unterbringungs- und Freiheitsentziehungssachen (§ 70 Abs. 2 FamFG), die nunmehr dem BGH zugewiesen sind, wieder den Oberlandesgerichten übertragen werden. Diese sind in der Vergangenheit ausreichend entlastet worden (REINELT, Überlastung der Richter im Zivilprozess?, ZAP-Kolumne 2010, 243).

Fazit: Der Referentenentwurf verbessert den bisherigen Zustand. Deshalb wird er auch von der BRAK begrüßt. Die bessere Lösung ist und bleibt aber — anstelle der Vorschläge des Referentenentwurfs — die Abschaffung des § 522 Abs. 2 ZPO.