jurisPR-BGHZivilR 6/2010 Anm. 1

Wiedereinsetzung bei Zustellung gegen Empfangsbekenntnis

Anmerkung zu BGH, Beschluss vom 02.02.2010, VI ZB 58/09
Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof

Leitsatz:
Der Rechtsanwalt darf das Empfangsbekenntnis nur unterzeichnen und zurückgeben, wenn sichergestellt ist, dass in den Handakten die Rechtsmittelfrist festgehalten und vermerkt ist, dass die Frist im Fristenkalender notiert worden ist.

A. Problemstellung
Im Abstand von einer Woche haben der VI. und der XI. Zivilsenat zwei konträre Entscheidungen zur Wiedereinsetzung gefällt.

Der VI. Zivilsenat fügt mit Beschluss vom 02.02.2010 der umfangreichen Rechtsprechung zum Wiedereinsetzungsgesuch eine neue Entscheidung hinzu. Sie bestätigt die strenge Praxis bei Wiedereinsetzung im Zusammenhang mit der Verwendung von Empfangsbekenntnissen bei der Zustellung. Insoweit steht sie mit der Tradition der bisherigen Entscheidungen im Einklang. Allerdings besteht ein nur schwer zu erklärender Wertungswiderspruch zu der eine Woche später erlassenen Entscheidung des XI. Zivilsenats (Beschl. v. 09.02.2010 - XI ZB 34/09, hierzu Reinelt, jurisPR-BGHZivilR 6/2010 Anm. 2, in dieser Ausgabe), die eine anwaltsfreundlichere Tendenz vertritt.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen eines behaupteten ärztlichen Behandlungsfehlers auf Schadensersatz in Anspruch. In erster Instanz hat sie nur teilweise Erfolg. Das Ersturteil wird dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 13.03.2009 zugestellt. Die Zustellung der vollstreckbaren Ausfertigung des Urteils erfolgte erst elf Tage später, nämlich am 24.03.2009.

Am 23.04.2009 legt der Prozessbevollmächtigte der Klägerin Berufung ein. Das Berufungsgericht verweist auf die bereits abgelaufene Berufungsfrist (Ablauf 14.04.2009). Das Wiedereinsetzungsgesuch der Klägerin begründet der Prozessbevollmächtigte der Klägerin wie folgt:

In seinem Büro gebe es die Anweisung, dass – wenn ein Urteil mit dem unterzeichneten Empfangsbekenntnis in das Sekretariat zurückgelange – die Fristen zu berechnen und im Fristenkalender sowie auf dem Urteil zu notieren seien. Im vorliegenden Fall sei der Fehler deshalb geschehen, weil nach Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses zwar dieses, nicht aber das Urteil selbst zur Akte gelangt sei. Das habe sich trotz höchster Sorgfalt nicht vermeiden lassen.

Das Berufungsgericht weist den Wiedereinsetzungsantrag zurück und verwirft die Berufung als unzulässig. Die Fristversäumnis sei vom Prozessbevollmächtigten verschuldet. Er habe das Empfangsbekenntnis unterzeichnet, ohne selbst das Datum der Zustellung auf dem Urteil zu vermerken, eine Wiedervorlagefrist zu bestimmten und die Fristnotierung sicherzustellen.

Die Rechtsbeschwerde zum BGH bleibt erfolglos. Der BGH führt aus: Die Rechtsbeschwerde ist nach § 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthaft, jedoch nicht zulässig. Die maßgeblichen Rechtsfragen seien durch den BGH geklärt. Danach habe die Klägerin wegen eines Verschuldens des Prozessbevollmächtigten, das sie sich nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen müsse, die Verfristung der Berufungsfrist zu vertreten. Unter Rn. 6 bezieht sich der BGH dann auf bisherige Rechtsprechung, wie sie im Leitsatz zum Ausdruck kommt:

Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH darf der Rechtsanwalt das Empfangsbekenntnis über eine Urteilszustellung nur unterzeichnen und zurückgeben, wenn sichergestellt ist, dass in den Handakten die Rechtsmittelfrist festgehalten und vermerkt ist, dass die Frist im Fristenkalender notiert worden ist (Senatsbeschl. v. 26.03.1996 - VI ZB 1/96, VI ZB 2/96 - VersR 1996, 1390, und Senatsbeschl. v. 12.01.2010 - VI ZB 64/09; BGH, Beschl. v. 30.11.1994 - XII ZB 197/94 - BGHR ZPO § 233 - Empfangsbekenntnis 1, m.w.N.). Der zunächst strikt anmutende Leitsatz wird dann allerdings relativiert: Wird das Empfangsbekenntnis ohne Vorlage der Handakten unterzeichnet und erhöht sich deshalb die Gefahr, dass die Fristnotierung unterbleibt, muss der Anwalt – wenn er die Eintragung in Handakte und Fristenkalender nicht selbst vornimmt – durch eine besondere Einzelanweisung die erforderliche Eintragung veranlassen. Auf allgemeine Anordnungen darf er sich in einem solchen Fall nicht verlassen. Erteilt er eine solche Einzelanweisung an die Bürokraft, müssen ausreichende organisatorische Vorkehrungen dafür getroffen sein, dass die Anweisung nicht in Vergessenheit gerät

Einzelanweisung und organisatorische Maßnahmen zur Überprüfung – so der Senat – habe der Prozessbevollmächtigte der Klägerin im Zusammenhang mit der Wiedereinsetzung aufzeigen müssen. Ohne deren Darlegung kann er sich von seinem der Klägerin zuzurechnenden Verschulden nicht entlasten.

Ob das Berufungsgericht ggf. Anlass gehabt hätte, auf eine Präzisierung von Darlegung und Glaubhaftmachung durch die Klägerin und ihren Prozessbevollmächtigten hinzuwirken, wie der XI. Zivilsenat dies in der nachstehend besprochenen Entscheidung vom 09.02.2010 (XI ZB 34/09) postuliert hat, bleibt in der hier besprochenen Entscheidung des VI. Zivilsenats unbeantwortet.

C. Kontext der Entscheidung
Die gelegentlich in der Vergangenheit zu beobachtende Tendenz zur großzügigeren Handhabung von Wiedereinsetzungsgesuchen (vgl. Reinelt, jurisPR-BGHZivilR 35/2007 Anm. 4, unter C) setzt sich mit der hier zu besprechenden Entscheidung nicht fort. Gerade im Zusammenhang mit der Verwendung von Empfangsbekenntnissen scheint der BGH besonders strenge Maßstäbe anzulegen. Er geht davon aus, dass seine Rechtsprechung durch die zitierten Entscheidungen gefestigt ist. Daraus leitet er her, dass die Zulassungsvoraussetzungen des § 574 ZPO für die Rechtsbeschwerde fehlen. Die Klärungsbedürftigkeit im Sinne einer grundsätzlichen Bedeutung wird also verneint (der Senat zitiert allerdings versehentlich § 544 Abs. 1 statt Abs. 2 Satz 1 des § 574 ZPO).

Der BGH hat bereits durch mehrere frühere Entscheidungen den Grundsatz betont, der auch im Leitsatz zum Ausdruck kommt. Danach darf der Rechtsanwalt das Empfangsbekenntnis über eine Urteilszustellung erst unterzeichnen und zurückgeben, wenn in den Handakten die Rechtsmittelfrist festgehalten und vermerkt worden ist, dass die Frist im Fristenkalender notiert worden ist (z. B. BGH, Beschl. v. 26.03.1996 - VI ZB 1/96, VI ZB 2/96 - VersR 1996, 1390).

Diese allgemeine, im Leitsatz zum Ausdruck kommende Aussage (die der BGH im Anschluss daran allerdings durch eine genauere Begründung einschränkt) ist fragwürdig. Sie geht offenbar davon aus, dass die Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses regelmäßig erst nach Fristeintragung erfolgen sollte. Das ist aber weder mit dem Sinn des Empfangsbekenntnisses noch mit den tatsächlichen notwendigen Abläufen im Kanzleibetrieb vereinbar. In dieser allgemeinen Form lässt sich die These des VI. Zivilsenats, der die bisherige Rechtsprechung wiederholt, mit dem Sinn der Regelung einer Zustellung gegen Empfangsbekenntnis nicht vereinbaren. Beim gewöhnlichen Kanzleibetrieb können die Eintragungen der Fristen im Fristen-buch und in der Handakte erst nach Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses erfolgen. Dieser notwendige Ablauf wird aber vom BGH offenbar als Ausnahme und deshalb als besonders gefahrenträchtig dargestellt.

Die strikte These, der die Vorstellung zu Grunde liegt, das Empfangsbekenntnis solle nach Fristeintragung unterzeichnet werden, lässt sich nicht halten.

Zur Zustellung gegen Empfangsbekenntnis an den Anwalt als Empfangsbevollmächtigten der Prozesspartei gehört nicht nur die Hingabe des zuzustellenden Schriftstücks, sondern die Entgegennahme durch den Zustellungsempfänger mit der Bereitschaft, das Schriftstück als zugestellt zu empfangen (BGH, Beschl. v. 15.02.2006 - XII ZB 215/05 - NJW 2006, 1205). Hier gilt nichts anderes, als bei der Zustellung von Anwalt zu Anwalt nach § 195 ZPO. Die Zustellungsbereitschaft auf Seiten des Anwalts ist keineswegs unbedingt identisch mit dem Moment des Eingangs des Schriftstücks im Büro des Prozessbevollmächtigten. Das Erfordernis, das zuzustellende Schriftstück empfangsbereit entgegenzunehmen (vgl. auch BGH, Beschl. v. 14.10.2008 - VI ZB 23/08 - NJW 2009, 855), das durch die Unterschrift auf dem Empfangsbekenntnis dokumentiert wird (BGH, Beschl. v. 20.07.2006 - I ZB 39/05 - NJW 2007, 600), hat auch seinen guten Sinn: Der Anwalt soll nicht gezwungen werden, eine Empfangsbereitschaft zu bestätigen, wenn er etwa wegen Abwesenheit von der Kanzlei (auswärtige Termine, Vorträge etc.) das Schriftstück nicht an diesem Tag als zugestellt entgegennehmen kann und will.

Wenn man aber das Postulat der Empfangsbereitschaft des Anwalts für die Zustellung als erforderlich ansieht, wie das die ständige Rechtsprechung auch im Rahmen des § 174 ZPO tut, ist es vom Ablauf her undenkbar, dass das Kanzleipersonal in den Handakten die Rechtsmittelfrist festhält und vermerkt, dass die Frist im Fristenkalender notiert worden ist, bevor der Anwalt das Empfangsbekenntnis unterschreibt. Erst durch seine Unterzeichnung wird nämlich die Empfangsbereitschaft signalisiert und damit der Fristlauf in Gang gesetzt. Folglich kann – entgegen dem Leitsatz des Senats – bei korrektem Ablauf die Eintragung der Rechtsmittelfrist in der Handakte und im Fristenkalender schlechterdings nicht vor Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses erfolgen. Das Kanzleipersonal weiß nicht, wann sich der Anwalt durch Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses zur Zustellung bekennen wird. Es kann deshalb Fristeintragungen nicht vornehmen, bevor das Empfangsbekenntnis unterzeichnet ist. Deshalb ist der Leitsatz der besprochenen Entscheidung – wie er in dem neuen Beschluss des VI. Zivilsenats wiederholt wird – mit den tatsächlichen notwendigen Kanzleiabläufen nicht vereinbar.

Im Ergebnis hat allerdings der VI. Zivilsenat in einem entscheidenden Punkt Recht: Durch die (notwendig) vorrangige Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses erhöht sich die Gefahr, dass die Fristnotierung unterbleibt. Deshalb ist besondere Sorgfalt des Rechtsanwalts geboten. Ob und warum allerdings der Rechtsanwalt bei diesem gewöhnlichen und notwendigen Ablauf des Kanzleibetriebs vor Unterzeichnung eines Empfangsbekenntnisses die notwendigen Eintragungen in der Handakte und im Fristenkalender entweder selber vornehmen oder durch besondere organisatorische Maßnahmen mit dem Erfordernis einer zusätzlichen Überprüfung im Einzelfall gewährleisten muss, dass die Eintragung der Frist nach Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses geschieht, erschließt sich aber nicht. Bei gewöhnlichem Kanzleibetrieb müsste – wie sonst auch bei Zustellungen – die allgemeine Anordnung zur Fristennotierung (vgl. hierzu BGH, Beschl. v. 04.11.1981 - VIII ZB 59/81, VIII ZB 60/81 - NJW 1982, 2670, und Reinelt, jurisPR-BGHZivilR 35/2007 Anm. 4) durch eine speziell hierfür bestimmte ausgebildete Anwaltsgehilfin genügen. Die gegenteilige Auffassung der Rechtsprechung überzeugt nicht. Warum die Fristeintragung nach Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses nicht entsprechend allgemeinen Anordnungen zur Fristnotierung möglich sein soll, lässt sich der Rechtsprechung nicht überzeugend entnehmen. Eigentlich müsste es ausreichen, wenn nach dem Organisationsplan der Kanzlei die allgemeine Weisung an eine hierfür zuständige ausgebildete Anwaltsgehilfin besteht, unmittelbar nach Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses die entsprechenden Eintragungen im Kalender und im Fristenbuch vorzunehmen. Angesichts der Rechtsprechung zur Wiedereinsetzung bei Unterzeichnung von Empfangsbekenntnissen kann der Anwalt sich aber auf eine solche praxisorientierte Auffassung nicht verlassen.

D. Auswirkungen für die Praxis
Die außerordentlich weitgehende und mit dem Sinn des Empfangsbekenntnisses kaum zu vereinbarende Rechtsprechung zwingt den Anwalt im Ergebnis bei Unterzeichnung eines Empfangsbekenntnisses dazu, entweder jeweils durch eine dokumentierte Einzelanweisung und deren nachträgliche Überprüfung sicherzustellen, dass die Eintragungen in Fristenbuch und Handakte entsprechend der Datierung im Empfangsbekenntnis vorgenommen worden sind oder aber – einfacher – die entsprechenden Eintragungen in Fristenbuch und Handakte selber vorzunehmen. Ich halte das für eine erhebliche Überspannung anwaltlicher Sorgfaltspflicht bei einem ganz gewöhnlichen Vorgang innerhalb des Kanzleiablaufs. Man wird sich aber an der strengen Rechtsprechung des BGH hierzu orientieren müssen. Dem Anwalt ist daher zu empfehlen, nach Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses die Eintragungen im Fristenbuch und der Akte selber vorzunehmen oder die vorgenommene Eintragung durch die Anwaltsgehilfin in jedem einzelnen Fall zu überprüfen.

Allerdings sollte der BGH sich angesichts des Sinns des Empfangsbekenntnisses und der daraus notgedrungen sich ergebenden Praxis überlegen, ob er an dem in ständiger Rechtsprechung seit dem Beschluss des BGH vom 25.03.1992 (XI I ZR 268/91) immer wiederholten Grundsatz (vgl. Leitsatz) tatsächlich festhalten kann, dass das Empfangsbekenntnis über die Urteilszustellung erst unterzeichnet und zurückgegeben werden darf, wenn zuvor die Fristeintragungen erfolgt sind. Das Postulat aus diesem Leitsatz ist angesichts des Sinns des anwaltlichen Empfangsbekenntnisses und der daraus sich ergebenden Folgen für den Kanzleiablauf verfehlt.