ZRP 7/2009, Seite 203

Die unendliche Geschichte - § 522 II ZPO*

Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof  

Die so genannte einstimmige Beschlusszurückweisung nach § 522 II ZPO steht unverändert im Brennpunkt der rechtspolitischen Diskussion und Kritik. Eine öffentliche Podiumsdiskussion, die am 17. 6. 2009 im Reichtagsgebäude auf Einladung der FDP stattfand, befasste sich mit einem von der FDP eingebrachten Gesetzentwurf. Dieser sieht die Einführung einer Rechtsbeschwerde gegen die Beschlusszurückweisung (unter Aufhebung des § 522 III ZPO) vor. Zu dieser Einladung gab es den größten Rücklauf an Anfragen und Rückmeldungen, den die FDP-Fraktion je bei einer Gesetzesinitiative erlebt hat. Das belegt die kolossale Aufmerksamkeit, die dem Problem des § 522 II ZPO in der täglichen juristischen Praxis und in der rechtspolitischen Diskussion zukommt.

I. Der Gesetzesentwurf der FDP-Fraktion zur Änderung des § 522 Abs. 2 ZPO

1. Die FDP-Fraktion hat einen Gesetzentwurf zur Änderung des § 522 II ZPO eingebracht. Er sieht vor, dass die Rechtsbeschwerde zum BGH gegen Zurückweisungsbeschlüsse nach § 522 II ZPO eingeführt werden soll1. In einer Stellungnahme vom Februar 2009 begrüßt die Bundesrechtsanwaltskammer grundsätzlich diesen Vorschlag2, möchte die Rechtsbeschwerde aber auf solche Fälle beschränken, in denen der Anspruch auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt worden ist oder die Voraussetzungen des § 522 II 1 ZPO willkürlich bejaht wurden.

Am 5.3.2009 fand eine Debatte im Bundestag statt, bei der insbesondere die Bundesjustizministerin Brigitte Zypries, aber auch Vertreter von CDU und SPD Kritik am Entwurf geäußert haben. In diesen Stellungnahmen wurden Effizienz und Rechtsstaatlichkeit der gegenwärtigen Regelung betont. Die Beschlusszurückweisung nach § 522 II ZPO war Gegenstand einer öffentlichen Podiumsdiskussion, die am 17.6.2009 auf Einladung der FDP-Fraktion im Reichtagsgebäude stattfand3. Ganz überwiegend wurde hierbei die Auffassung vertreten: Die Abschaffung der Vorschrift des § 522 II ZPO ist die beste Lösung.

2. Egon Schneider hat in seiner „Praxis der neuen ZPO" bereits kurz nach Inkrafttreten der Zivilprozessreform mit dem 1.1.2002 geschrieben4:
„Die Zurückweisung der Berufung durch einstimmigen Beschluss wegen fehlender Erfolgsaussicht wird der Anwaltschaft möglicherweise noch viel Verdruss bereiten. Diese Regelung macht nicht nur Fehlbeurteilungen unanfechtbar, sondern sie bringt auch die Gefahr des Missbrauchs mit sich."

Das hat sich in der Praxis auf betrübliche Weise bestätigt. Die Vorschrift führt zu erheblichen Gerechtigkeitsdefiziten, Justizverdrossenheit und entgegen den Absichten des Gesetzgebers auch nicht zu wirklicher Beschleunigung.

In der öffentlichen Diskussion galten bisher folgende Grundsätze als gesichert:

- § 522 II ZPO mit dem Ausschluss eines Rechtsmittels ist verfassungsgemäß.
- Es handelt sich um eine arbeitssparende und sinnvolle Maßnahme.
- Dem Gerechtigkeitserfordernis wird durch das Prinzip der Einstimmigkeit Rechnung getragen.

Sämtliche Thesen sind in Frage zu stellen:

II. Verfassungsmäßigkeit des § 522 II ZPO in der praktischen Handhabung?

Das BVerfG hat mehrfach die grundsätzliche Verfassungsmäßigkeit der Regelung bestätigt5. Gleichwohl sind die Stimmen, die die Verfassungsmäßigkeit in Frage stellen, nicht verstummt6. In einer Entscheidung vom 4.11.2008 hat das BVerfG ausgeführt, dass mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes eine den Zugang zur Revision erschwerende Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift unvereinbar ist, wenn sie sachlich nicht zu rechtfertigen ist, damit als objektiv willkürlich gilt und den Zugang zur nächsten Instanz unzumutbar einschränkt7. Das BVerfG hat also die Anwendung des § 522 II ZPO in Fällen für verfassungswidrig erklärt, in denen rechtsgrundsätzliche Fragen zur Entscheidung stehen und das Oberlandesgericht gleichwohl nach § 522 II ZPO einen einstimmigen Beschluss erlässt. Mit zahlreichen Beispielen aus der Praxis lässt sich belegen: § 522 II ZPO wird entgegen der Intention des Gesetzgebers nach Ermessen, gelegentlich nach Belieben, gehandhabt, und zwar nicht nur regional innerhalb der Bundesrepublik unterschiedlich, sondern auch zwischen einzelnen Kammern bzw. Senaten desselben Gerichts8. Diese diffuse Handhabung bleibt, insbesondere auch mit Rücksicht auf die Unterschiedlichkeit der Anwendung des § 522 II ZPO, verfassungsrechtlich höchst bedenklich9.

Die Spreizung in der Anwendung des § 522 II ZPO führt - unabhängig von den verfassungsrechtlichen Bedenken - zu einer problematischen Zersplitterung des Verfahrensrechts in der Bundesrepublik. Im Grunde lehrt die Erfahrung in der Praxis, dass die Entscheidung des Berufungsgerichts schon mit der Hinweisverfügung gefallen ist, die dem Beschluss nach § 522 II ZPO vorangehen muss. Diese muss keineswegs einstimmig ergehen. Das ist aber ein erhebliches, auch Art. 103 I GG tangierendes Gerechtigkeitsdefizit. Es kann nicht ausschließliche Aufgabe des BVerfG sein, das Gerechtigkeitsdefizit zu korrigieren, ganz abgesehen davon, dass viele Mandanten begreiflicherweise den Gang zum BVerfG scheuen und sie dort häufig an formalen Hürden scheitern.

III. Entlastung der Gerichte?

Eine Entlastung der Gerichte war schon bei Einführung der Vorschrift des § 522 II ZPO mit Wirkung ab 1.1.2000 nicht notwendig. Erst recht brauchen wir sie heute nicht. Kontinuierlich gehen die Eingänge bei Gericht, auch gerade bei Berufungen zurück. Darüber hinaus: Das Verfahren führt nicht zu einer Vereinfachung oder Arbeitsentlastung, deren Notwendigkeit ohnehin zweifelhaft ist. § 522 II ZPO verleitet Berufungsgerichte zu Missbrauch10. Sie ersparen sich zwar den Aufwand einer mündlichen Verhandlung, aber eine wirkliche Arbeitsersparnis tritt gleichwohl nicht ein. Denn vor einem entsprechenden Beschluss muss der Hinweis an die Parteien ergehen. Zu diesem müssen die Parteien Stellung nehmen. Die Stellungnahme muss vom Berufungsgericht (drei Richtern) verarbeitet werden. Erst dann darf der Beschluss nach § 522 II ZPO ergehen. Dieser muss sich gegebenenfalls wiederum mit den Einwänden der Partei gegen die Hinweisverfügung inhaltlich auseinandersetzen. Das erfordert also eine mehrfache Befassung mit dem Fall. Eine gute Beschlussbegründung bereitet nicht weniger Arbeit als die Begründung eines Endurteils. In diesem Zusammenhang verdient ein weithin unbeachteter Aspekt Beachtung; Die Hinweisverfügung, die vor dem Beschluss nach § 522 II ZPO zur Wahrung des rechtlichen Gehörs erforderlich ist, muss nicht einstimmig ergehen. Sie muss noch nicht einmal von den Richtern erlassen werden, die dann den Zurückweisungsbeschluss nach § 522 II ZPO fassen. Nur dieser letztere Beschluss erfordert Einstimmigkeit11. Das BVerfG hat es als unbedenklich bezeichnet, wenn an dieser vorangehenden Hinweisverfügung des Gerichts andere Richter mitgewirkt haben oder sie durch einen anderen Vorsitzenden erlassen worden ist als durch denjenigen, der dann später am Zurückweisungsbeschluss beteiligt ist12. Wenn die Hinweisverfügung erlassen ist, und zwar in der Regel gerade nicht einstimmig, sondern gegebenenfalls auf Veranlassung des Berichterstatters vom Vorsitzenden, setzt die richterliche Selbstpräjudikation ein13. Diese hat zur Folge: In fast allen Fällen hält sich das Gericht an die vorherige Hinweisverfügung und präjudiziert sich durch diese selbst. Der Richter nimmt dann selektiv — ein psychologisch verständliches Phänomen — in erster Linie das wahr, was seine bereits geäußerte Auffassung stützt (Bestätigung der eigenen Auffassung durch selektive Wahrnehmung). Und dann ergeht der Zurückweisungsbeschluss, dessen vorgebliche Einstimmigkeit das gerechte Ergebnis garantieren soll. Der Ablauf zeigt, dass bei sachgerechter Handhabung eine Arbeitserleichterung gegenüber der sofortigen Anberaumung einer mündlichen Verhandlung tatsächlich nicht eintritt und darüber hinaus eine mögliche Selbstpräjudikation des Richters jedenfalls die Gefahr mit sich bringt, dass der bereits zuvor erlassene Hinweisbeschluss faktisch das Ergebnis des Beschlusses nach § 522 II ZPO vorwegnimmt. Angesichts dieses Ablaufs bleibt von der viel beschworenen Einstimmigkeit nicht viel übrig. Das ist ein für Anwälte wie Parteien unerträgliches Ergebnis.

Unklar bleibt in der Praxis im Übrigen auch was es mit dem Kriterium der „Unverzüglichkeit" in § 522 ZPO auf sich hat14. In der Praxis wird häufig hin und her geschrieben, ohne dieses Unverzüglichkeitsgebot zu beachten, so dass es letztlich eigentlich keinen praktischen Zweck erfüllt.

IV. Die Handhabung des Beschlusses nach § 522 II ZPO in der Praxis

Die oft betonte Einstimmigkeit des Zurückweisungsbeschlusses existiert in der Praxis nicht. Bundesjustizministerin Brigitte Zypries hat sich darauf berufen, dass (einschließlich 1. Instanz) mindestens vier Richter die gleiche Auffassung vertreten. Die Einstimmigkeit, die die Gerechtigkeit eines entsprechenden Beschlusses garantieren soll, ist aber ein Placebo-Argument15. Fast jeder Richter bestätigt: Die Einstimmigkeit ist in der Regel eine Zweistimmigkeit. Nur der Berichterstatter und — in vielen Fällen — auch der Vorsitzende kennen die Akten. Der dritte Richter wird nur informiert durch den Vortrag oder das Votum des Berichterstatters, das unter Umständen nicht alle Argumente berücksichtigt, die die drei Richter in einer mündlichen Verhandlung berücksichtigen würden. Sind sich Vorsitzender und Berichterstatter einig, stimmt der dritte Richter ohne eigene Aktenkenntnis zu und unterliegt dem aus der Soziologie bekannten Gruppenzwang. Würde mündlich verhandelt, könnten die Anwälte durch ihre Plädoyers ein differenzierteres Bild vermitteln. Dazu kommt der psychologische Umstand, dass der Berichterstatter dazu neigt, sich von der mündlichen Verhandlung und dem Abfassen des Urteils zu entlasten und deshalb entsprechend zu votieren16.

Die Vorschrift des § 522 II ZPO ist zudem unglücklich formuliert. Zu welchen Missverständnissen dies führen kann, hat die Anhörung zum FDP-Entwurf am 5.3.2009 im Bundestag gezeigt. Die Vermischung von kumulativen und/oder alternativen Voraussetzungen, die durch „und" bzw. „oder" verbunden sind, trägt immer dann zur besonderen Verwirrung bei, wenn diese — wie in der Formulierung des Gesetzes —mit einer Negativaussage verbunden sind. Dementsprechend haben die Äußerungen in der Anhörung vom 5.3 200917 auch gezeigt, wie leicht die Beschlussvoraussetzungen des § 522 II ZPO fehlerhaft interpretiert werden können (Beitrag des rechtspolitischen Sprechers der CDU, Jürgen Gehb). Eine eindeutige und klare Formulierung der undeutlich gefassten Vorschrift des § 522 II ZPO würde beispielsweise lauten: „Das Berufungsgericht weist die Berufung durch einstimmigen Beschluss zurück, wenn es überzeugt ist, dass die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat und kein Zulassungsgrund vorliegt."
Die Voraussetzungen des § 522 II ZPO müssen kumulativ gegeben sein. Dann muss das Berufungsgericht von § 522 II ZPO Gebrauch machen, ein Ermessen ist ihm also nicht eingeräumt. Gleichwohl verfährt die Praxis so, dass die Berufungsgerichte § 522 II ZPO nicht als zwingende Vorschrift, sondern als Ermessensregel interpretieren18. Die Grenze zwischen der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe (grundsätzliche Bedeutung etc.) und der Ausübung von Ermessen sind fließend. Tatsächlich zeigt die regional unterschiedliche Praxis, dass die Entscheidung nach § 522 II ZPO entgegen der Intention des Gesetzgebers als Ermessensentscheidung gehandhabt wird. Dazu haben selbst Richter in der öffentlichen Diskussion am 17.6.2009 die Vermutung geäußert, dass § 522 II ZPO bevorzugt angewendet wird in Fällen, die kompliziert und arbeitsaufwendig sind (beispielsweise in diffizilen Kapitalanlageprozessen oder bei schwierig zu lösenden Rechtsfragen auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien)19.

In jedem Fall trägt die tatsächliche Handhabung des § 522 II ZPO deutlich zur Justizverdrossenheit bei. Die Rechtsanwender und insbesondere die Rechtsprechung sollten sich selber verpflichtet sehen, Bürgernähe und Transparenz zu schaffen20.

Die höchst unterschiedliche und oft zu ungerechten Ergebnissen führende Anwendung des § 522 II ZPO bewirkt das Gegenteil. Die Auffassung von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries in der Anhörung vom 5.3.2009, zu den guten Ergebnissen der Reform der Zivilprozessordnung gehöre auch § 522 II ZPO, lässt sich auf Grund der Erfahrung in der Praxis nicht überzeugend begründen.

Insbesondere gibt es keinerlei Evaluationen, die auch nur ansatzweise die anwaltliche Sicht und damit diejenige des Mandanten berücksichtigen. Der Präsident der Rechtsanwaltskammer für München und Oberbayern, Hans Jörg Staehle, und der Unterzeichner haben in der öffentlichen Diskussion am 17.6.2009 übereinstimmend festgestellt, dass sie nicht einen einzigen forensisch tätigen Anwalt kennen, der die Vorschrift für gelungen hält. Eine die Anwälte einbeziehende Evaluation würde das mit Sicherheit bestätigen.

Gerechtigkeitsdefizite bei der Handhabung des § 522 II ZPO stellen sich insbesondere auch dann ein, wenn eigentlich gebotene Beweisaufnahmen unterbleiben. So scheint es auch in einem Fall zu liegen, in dem ein schon bei der Geburt durch ärztliche Fehler schwer geschädigtes Kind in Anwendung des § 522 II ZPO im Berufungsverfahren um sein Recht gebracht worden ist. Der Vater des geschädigten Kindes, Holweg, Teilnehmer der öffentlichen Diskussion, hat die deprimierenden prozessualen Vorgänge um den Schadensersatzprozess seiner Tochter publik gemacht21. Hier wurden die Ergebnisse eines erst in zweiter Instanz vorliegenden privaten Gutachtens im Rahmen eines Beschlusses nach § 522 II ZPO völlig übergangen. Das geht sicher auch zurück auf den Umstand, dass bei der Anwendung des § 522 II ZPO umstritten ist, ob neue Tatsachen zu berücksichtigen sind oder nicht22. Im Fall der Anberaumung einer mündlichen Verhandlung hätte die Frage der Verspätung nach § 530 ZPO i. V. mit § 296 ZPO geprüft werden müssen mit dem Ergebnis, dass eine Verspätung mangels Verschulden an der späteren Vorlage des Gutachtens nicht vorlag und der gerichtliche Gutachter in der Berufungsinstanz anzuhören gewesen wäre. Bei Durchführung einer mündlichen Verhandlung wäre also — richtige Handhabung unterstellt — gegebenenfalls anders entschieden worden. Jedenfalls hätte man bei Urteilsentscheidung den Weg zum BGH, gegebenenfalls auch zum BVerfG offengehalten.

Möglicherweise hat auch das Bundesjustizministerium den Reformbedarf erkannt. In der öffentlichen Diskussion am 17. 6. 2009 erklärte ein Vertreter, man habe sich bereits darüber Gedanken gemacht, ob gegebenenfalls eine Streitwertgrenze eingeführt werden und von der Beschlusszurückweisung nach § 522 II ZPO nur bei kleineren Streitwerten Gebrauch gemacht werden sollte. Das ist allerdings keine geeignete Lösung. Gerade im Kapitalanlagerecht kann eine Beschlussentscheidung nach § 522 II ZPO auch bei geringem Streitwert unzählige Parallelverfahren anderer Anleger nach sich ziehen mit den entsprechenden gravierenden Konsequenzen für den jeweiligen Berufungsführer23.

V. Einführung eines Rechtsmittels gegen den Zurückweisungsbeschluss

1. Angesichts dieser Ausgangssituation ist der Versuch, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf entgegen § 522 III ZPO eine Kontrolle durch Rechtsbeschwerde einzuführen, eine gute Lösung, wenn auch nur die zweitbeste (gegenüber der Abschaffung des § 522 II ZPO). Allein die Tatsache, dass ein Rechtsmittel gegen diesen einstimmigen Beschluss möglich wird, dürfte die Berufungsgerichte motivieren, mit der Handhabung sorgfältiger umzugehen. Nicht eindeutig geregelt sind im Entwurf der FDP die Folgen der Zulassung einer Rechtsbeschwerde zum BGH. Unterstellt, gegen die Zurückweisung durch Beschluss werde die Rechtsbeschwerde zum BGH eröffnet, stellen sich folgende, noch nicht geklärte Fragen:

- Wie soll die Entscheidung des BGH bei begründeter Rechtsbeschwerde lauten?
- Zurückverweisung mit dem Tenor, dass die Berufung doch Aussicht auf Erfolg hat und das Berufungsverfahren fortzusetzen ist?
- Eigene Entscheidung des BGH in der Sache?

Wenn eine Rechtsbeschwerde nach § 522 II 4 ZPO durch die Neuregelung im Entwurf der FDP zugelassen wird, bleibt es bei den Voraussetzungen- des § 574 II Nr. 1 ZPO, wonach die Zulässigkeit davon abhängt, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung die Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordern. Das bedeutet also, dass der BGH die inhaltliche Prüfung der Zulassungsvoraussetzungen vorzunehmen hat, die bei jeder Rechtsbeschwerde erforderlich ist.

Unklar bleibt, was der BGH eigentlich entscheiden soll. Soll er gegebenenfalls nur aufheben und zurückverweisen oder selbst entscheiden können? Diskutiert wurde in diesem Zusammenhang, ob es gegen einen Beschluss nach § 522 II ZPO vielleicht besser eine Nichtzulassungsbeschwerde geben sollte. Das dürfte allerdings systematisch sehr fraglich sein, weil Fälle denkbar sind, in denen Tatsachen aufgeklärt werden müssen, die vor dem Revisionsgericht nicht zu klären sind. Der Erlass eines Endurteils im Fall der Entscheidungsreife (ohne vorherige mündliche Verhandlung vor dem Berufungsgericht) ist problematisch und würde den Parteien eine Instanz nehmen. Der Weg über eine Nichtzulassungsbeschwerde scheint mir daher nicht gangbar zu sein. Da es um Beschwerde geht, wird das Rechtsbeschwerdegericht kaum eine Endentscheidung im Sinne eines Urteils treffen können.

Inhaltlich wäre ein solcher Fall einer Entscheidungsreife und damit möglichen Endentscheidung für den BGH durchaus denkbar, wenngleich ungewöhnlich: Die I. Instanz gibt einer Klage statt, die Berufung wird nach § 522 II ZPO zurückgewiesen und erst der BGH stellt fest, dass der Anspruch verjährt war. Theoretisch könnte man sich daher auch eine eigene Endentscheidung des BGH in Form der Klageabweisung vorstellen. Das wird aber durch Beschluss nicht machbar sein, weil hierüber mündlich verhandelt werden muss. Auch sind Fälle denkbar, in denen eine Beweisaufnahme durchgeführt werden muss. Deshalb ist eine eigene Sachentscheidung des BGH problematisch. Diese Umstände belegen allerdings zugleich: Die Beschlussentscheidung des § 522 II ZPO ist ein nur sehr schlecht integrierbarer Fremdkörper innerhalb der ZPO-Regelungen. Denn in Fällen, die Gegenstand einer streitigen Auseinandersetzung und grundsätzlich auf mündliche Verhandlung angelegt sind, zu einer Endentscheidung durch Beschluss zu kommen, widerspricht dem bewährten Mündlichkeitsprinzip. In der öffentlichen Podiumsdiskussion am 17.6.2009 hat Staehle darauf hingewiesen, dass in anderen europäischen Staaten die Streitkultur der mündlichen Verhandlung so selbstverständlich respektiert und gehandhabt wird, dass Regelungen wie § 522 II ZPO nur Kopfschütteln hervorrufen.

2. Die Entscheidung des BGH kann im Beschlussweg nur darin bestehen, dass der BGH den Beschluss des Berufungsgerichts nach § 522 II ZPO aufhebt und zurückverweist mit dem Hinweis darauf, dass das Berufungsverfahren durch mündliche Verhandlung fortzusetzen ist (§ 577 IV ZPO). Dadurch tritt zwar eine Verzögerung des Berufungsverfahrens ein, verbunden mit einer zusätzlichen Belastung der BGH-Senate durch die Rechtsbeschwerde. Ich denke aber, dass das vor dem Hintergrund der Gerechtigkeitsdefizite durch die jetzige Handhabung des § 522 II ZPO mit dem Ausschluss jedes Rechtsmittels hingenommen werden muss.

In ihrer Stellungnahme vom Februar 2009 spricht sich die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) ebenfalls für die völlige Abschaffung der Regelung des § 522 II ZPO aus. Nur wenn das nicht durchsetzbar ist, sollte die Entscheidung durch eine Rechtsbeschwerde zum BGH gerichtlich überprüft werden können. Die BRAK will die Überprüfung durch den BGH nach entsprechender Rüge der Partei darauf begrenzen, ob der Anspruch auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt wurde und (oder?) die Voraussetzungen des § 522 II 1 ZPO „objektiv willkürlich" bejaht worden sind. Ob man hier auf objektive Willkürlichkeit abstellen muss, scheint mir fraglich. Es würde genügen zu formulieren:

„Das Rechtsbeschwerdegericht hebt die angefochtene Entscheidung auf und verweist die Sache zur erneuten Entscheidung zurück, wenn Zulassungsvoraussetzungen nach § 574 II ZPO gegeben sind und die Voraussetzungen des § 522 II 1 ZPO fehlerhaft bejaht wurden."

Denn es macht wenig Sinn, dass das Rechtsbeschwerdegericht durch die Beschränkung der Überprüfungsmöglichkeit gezwungen sein soll, einen als fehlerhaft erkannten Beschluss nach § 522 II ZPO, hinsichtlich dessen die Zulassungsvoraussetzungen bejaht werden, nicht aufzuheben, nur weil es an einem Verstoß gegen das rechtliche Gehör fehlt. Ich erinnere an das oben genannte Beispiel, dass erst das Rechtsbeschwerdegericht die Fehlerhaftigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung und des Beschlusses nach § 522 II ZPO feststellt. Nach meiner Auffassung wäre es sinnvoll, zur klareren Fassung der vom BGH im Fall des Erfolgs der Rechtsbeschwerde zu erwartenden Entscheidung § 577 IV ZPO durch einen neuen Satz 2 zu ergänzen wie folgt:

„Im Falle der Entscheidung nach § 522 II 4 ZPO ordnet das Rechtsbeschwerdegericht im Falle der Aufhebung und Zurückweisung die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht an."

Vl. Rechtspolitisches Fazit

Die eindeutig bessere -Alternative zum Gesetzentwurf der FDP wäre die Rückkehr zum alten Rechtszustand. Hierfür spricht eine Reihe von Gründen:

- Die Gefahr unterschiedlicher Handhabung besteht nicht.
- Aussichtslose Berufungen erledigen sich vielfach ohnehin durch Rücknahme des Rechtsmittels.
- Die im Entwurf der FDP genannten Missbrauchsgefahren und die nicht nur regional, sondern auch innerhalb verschiedener Spruchkörper total unterschiedliche und damit verfassungsrechtlich bedenkliche Handhabung des § 522 II ZPO entfallen.
- Eine zusätzliche Belastung der Berufungsgerichte tritt, wenn überhaupt, nur in geringem Umfang ein, weil das Verfahren des § 522 ZPO auch ohne mündliche Verhandlung erheblichen Aufwand erfordert.
- Eine zusätzliche Belastung des BGH auf Grund der Erhöhung der Zahl von Nichtzulassungsbeschwerden ist denkbar, wird aber durch die Filterfunktion der BGH-Anwaltschaft begrenzt24.
- Eine mündliche Verhandlung erhöht die Akzeptanz der Entscheidung bei den Parteien und stärkt so den Rechtsfrieden.

Der CDU Abgeordnete Jürgen Gehb hat in der Anhörung vom 5.3.2009 im Bundestag erklärt, es wäre im Grunde „redlich", § 522 II ZPO ganz abzuschaffen, statt eine Rechtsbeschwerde gegen eine solche Entscheidung einzuführen. So ist es. Die Rechtsbeschwerde ist nur die zweitbeste Lösung. Aber sie ist besser als die gegenwärtige Rechtssituation mit dem vollständigen Ausschluss einer Überprüfungsmöglichkeit (§ 522 III ZPO).

* Der Verfasser ist Rechtsanwalt beim BGH, Honorarprofessor der Universität Regensburg und Mitherausgeber der ZAP.
1 BT-Dr. 16/11 457 v. 17. 12. 2008; vgl auch Lange, ZAP 2009, 941.
2 BRAK-Stellungnahme 5/2009.
3 Teilnehmer: Leitung: Justizpolitische Sprecherin der FDP Mechthild Dyckmans, Professor Dr. Reinhard Greger, Richter am BGH a. D., entpflichteter Professor der Universität Erlangen/Nürnberg; Vorsitzender Richter Gerhart Reichling, Mitglied des Präsidiums des Deutschen Richterbunds; Rechtsanwalt Hans-Jörg Staehle, Präsident der Rechtsanwaltskammer für den Oberlandesgerichtsbezirk München; Tilman Holweg, Kläger (www522zpo.de) und der Verfasser.
4 Praxis der neuen ZPO 2. Aufl., Rdnr. 817.
5 NJW 2009, 137; BeckRS 2008, 40027; NJW-RR 2009, 1026.
6 Krüger, NJW 2008, 945; Nassall, NJW 2008, 3390; a. A. Trimbach, NJW 2009, 401. Trimbach spricht davon, die Beschlusszurückweisung habe sich in der Praxis „eindeutig bewährt" (S. 405). Davon kann aus der Sicht der Anwaltschaft keine Rede sein.
7 So ausdrücklich BVerfG, NJW 2009, 572.
8 OLG München, Beschl. v. 27. 4. 2009 - 7 U 4502/08; OLG München, Urt. v. 30. 7. 2009 - 8 U 4503/08 nach Durchführung einer Beweisaufnahme, Endentscheidung durch Urteil in absolut gleichgelagerten Fällen verschiedener Anleger des gleichen Kapitalanlagefonds.
9 Zu den erstaunlichen regionalen Unterschieden und zur Statistik 2005 vgl. Nassall, NJW 2008, 3391 (Bremen 2,6%, Bayern über 20%, Anteil der Beschlüsse nach § 522 II ZPO an zurückgewiesenen Berufungen bei den bayerischen Oberlandesgerichten Über 50%).
10 Schneider, ZAP 2008, 1123.
11 Vgl. Schellenberg, MDR 2005, 611; Baumbach/Lauterbach, ZPO, 69. Aufl. (2009) Rdnr. 20.
12 BVerfG, NJW 2004, 3696; Schellenberg, MDR 2005, 610 (611).
13 Vgl. dazu Reinelt, ZAP, 2009, 211.
14 Hierzu Schellenberg, MDR 2005, 610; Fölsch, NJW 2006, 3521.
15 Schneider, ZAP 2008, 1123 (1124).
16 Schneider, ZAP-Kolumne 2008, 1123.
17 BT-Dr. 16-11 457.
18 Vgl. Schellenberg, MDR 2005, 610; OLG Köln, MDR 2003, 1435; OLG Koblenz, NJW 2002, 2800.
19 Vgl. etwa OLG Nürnberg, BeckRS 2007, 19 495 zu den komplizierten Fragen des EEG bei einem Investitionsvolumen von 1,6 Mio. Euro für eine Fotovoltaik-Anlage auf Gebäuden.
20 Vgl. Reinelt, ZAP Kolumne 2009, S. 323.
21 Vgl. www.522zpo.de. Dass gerade in medizinrechtlichen Fällen besondere Sorgfalt (Anhörung des Privatgutachters, der gegebenenfalls von einem gerichtlichen Gutachten abweicht) geboten ist, hat der BGH gerade erst wieder entschieden, BeckRS 2009, 15912, bespr. in NJW-Spezial 2009, 441.
22 Bejahend zutreffend Schneider, Praxis der neuen ZPO, 2. Aufl., Rdnr. 814; vgl. auch Schellenberg, MDR 2005, 610 (612).
23 OLG München, Beschl. v. 27. 4. 2009 — 7 U 4502/08.
24 Dazu Reinelt, ZAP 2009, Fach 4, 805.

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