Deutscher Bundestag - Rechtsausschuss Stellungnahmen der Sachverständigen (http://www.bundestag.de)

Die Gesetzesvorschläge zur Änderung des § 522 Abs. 2 ZPO Stellungnahme für den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages
von Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, RA BGH

 

Vorbemerkung:

Zur Zeit stehen drei Gesetzesentwürfe zur Änderung des § 522 Abs. 2 ZPO zur Diskussion: Entwurf der Bundesregierung (BTagsDrs vom 01.04.2011, 17/5334; SPD: BTagsDrs vom 18.01.2011, 17/4431 und Grüne vom 05.04.2011, BTagsDrs 17/5363). Die Fraktion der Linken hat sich den Oppositionsentwürfen angeschlossen.

Der Regierungsentwurf sieht die Einführung einer Nichtzulassungsbeschwerde gegen Beschlussentscheidungen nach § 522 Abs. 2 ZPO vor, die Entwürfe der Opposition die ersatzlose Streichung der Vorschrift.

Der Bundestag hat in seiner Sitzung vom 07.04.2011 die Entwürfe dem Rechtsausschuss zur Beratung zugewiesen. Dieser wird sich damit im Mai des Jahres befassen. Der Verfasser ist als einer der Sachverständigen für die Anhörung benannt.
 

I.
Praxis der „einstimmigen“ Beschlusszurückweisung

Die Prozessrechtsreform im Jahre 2001 hat die Möglichkeit der „einstimmigen“ Beschlusszurückweisung nach § 522 Abs. 2 ZPO eingeführt, die nach Abs. 3 dieser Vorschrift nicht angreifbar ist. Die Ausgestaltung der Vorschrift zeigt: Die Gerichte sollten nach dieser Vorschrift verfahren, wenn nach übereinstimmender Auffassung der Berufungsrichter die Berufung keinen Erfolg hat und Zulassungsgründe im Sinne der §§ 543 Abs. 2, 577 ZPO nicht gegeben sind. Ermessen war dem Gericht nicht eingeräumt.

Die Praxis in der Rechtsprechung hat folgendes gezeigt:

1) Es gibt in der Anwendung des § 522 Abs. 2 ZPO eine kolossale Rechtszersplitterung und damit eine flächendeckende Uneinheitlichkeit des zivilprozessualen Verfahrensrechts in der Bundesrepublik. Das zeigt die Begründung des Regierungsentwurfs im Allgemeinen Teil: Bei den Oberlandesgerichten beispielsweise werden zwischen 5,2 % der Fälle (Bremen) bzw. 9,1 % (Hamm) und 27,1 % (Rostock) der Fälle nach § 522 Abs. 2 ZPO entschieden. (vgl. zur Statistik im Einzelnen die Stellungnahme von Greger für die BRAK „Zur Zurückweisung der Berufung durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO“).

Wer also der Sanktion der Vorschrift unterliegt, hängt davon ab, wo geklagt und Berufung eingelegt wird. Angesichts des Umstands, dass mehrere Gerichtsstände denkbar sind und die Aufhebung des Lokalisationsprinzips dazu führt, dass jeder Anwalt überall Klage erheben kann, lässt sich damit unter Umständen das Verfahren und vielleicht damit auch verbunden das Ergebnis durch Ortswahl manipulieren.

Außerdem: Faktisch wird die Entscheidung nach § 522 Abs. 2 ZPO von den Gerichten nach Ermessen gehandhabt, nicht entsprechend ihrem Wortlaut wie eine zwingende Vorschrift. Dabei zeigt die Erfahrung in der Praxis, dass § 522 Abs. 2 ZPO – dies offenbar ganz entgegen der Intention des Gesetzgebers – von Gerichten häufig bevorzugt bei besonders komplizierten Fällen angewendet wird (z. B. in Arzthaftungs- oder Kapitalanlagefällen).

2) Die Vorschrift hat zu erheblichen Gerechtigkeitsdefiziten geführt (Reinelt ZAP 2009, 203 „Die unendliche Geschichte – § 522 Abs. 2 ZPO“, NJW Editorial 2010 Heft 44 „Einstimmige Beschlusszurückweisung“).

Ich will nicht behaupten, dass sie generell missbraucht wird. Aber sie trägt den Keim der Ungerechtigkeit in sich und verführt zum Missbrauch. In vielen Fällen wurde den Parteien in der Berufung kurzerhand die Möglichkeit abgeschnitten, sich sachgerecht gegen die erstinstanzliche Entscheidung zu verteidigen (Beispiele wiederum bei Greger „Zurückweisung der Berufung nach Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO“ unter Hinweis auf die Fälle BVerfG NJW 2007, 3118 – das OLG ist von Beweislastgrundsätzen des BGH abgewichen, ohne sich damit auseinanderzusetzen, Verkennung des Erfordernisses der Rechtsvereinheitlichung; BVerfG NJW 2009, 572 –Verkennung der grundsätzlichen Bedeutung; BVerfG NJW 2005, 1931 – OLG weist zurück, obwohl es auf Grund einer Presseerklärung des BGH davon ausgehen muss, dass in einer entscheidenden Rechtsfrage der BGH eine von anderen Senaten abweichende Rechsauffassung vertreten hat, Verkennung der grundsätzlichen Bedeutung). Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den Fall Deike Holweg, (vgl. www.522zpo.de). Das OLG hat es unterlassen, sich mit einem erst in zweiter Instanz vorliegenden Privatgutachten auseinanderzusetzen und dabei die höchstrichterliche Rechtsprechung, wonach in medizinrechtlichen Fällen besondere Sorgfalt mit Anhörung des Privatgutachters unerlässlich ist, ignoriert (BGH NJW, Spezial, 2009, 441).

Die sich in der unheitlichen Praxis der Anwendung des § 522 ZPO ergebenden Ungerechtigkeiten können nicht hingenommen werden. Sie werden auch durch die sog. Einstimmigkeit des Beschlussverfahrens nicht vermieden. Die Einstimmigkeit existiert de facto nicht. Die Gerichtsakten kennt in allen Fällen nur der Berichterstatter, in den meisten Fällen (wahrscheinlich aber eben nicht in allen) auch der Vorsitzende. Der Beisitzer kennt sie nicht. Dieser ist auf Informationen aus zweiter Hand angewiesen. Die Einstimmigkeit ist also faktisch bestenfalls eine Zweistimmigkeit, deren Gerechtigkeitsgarantie auch unter Berücksichtigung hierarchischer Strukturen in Zivilkammern oder Zivilsenaten keineswegs so sicher ist, wie die Verfasser des § 522 Abs. 2 ZPO meinten.

Demgegenüber können die Parteien und Prozessbevollmächtigten im Rahmen mündlicher Verhandlungen ihre Stellungnahme (auch auf Einwendungen des Gerichts) unmittelbar vortragen mit der Folge, dass auch der Beisitzer, der die Akten nicht kennt, aus erster Hand informiert wird. Die mündliche Verhandlung ist das Herzstück des Zivilprozesses. Sie garantiert die Wahrung des rechtlichen Gehörs und die Akzeptanz gerichtlicher Entscheidungen.

Nur so fühlen die Parteien sich auch wahrgenommen und verstanden. Das sichert den Rechtsfrieden.

3) Schließlich ist die Vorschrift überaus unglücklich formuliert. Ihre handwerklich unzureichende Struktur wird in der Diskussion kaum zur Kenntnis genommen, führt aber in der Praxis zur erheblichen Verwirrungen, wie beispielsweise die Stellungnahme des früheren CDU-Abgeordneten Gehb zur Anhörung zum Regierungsentwurf der FDP (vom 05.03.2009 BTagsDrs 16-11 457) seinerzeit ergeben hat. Misslungen ist die Kombination von alternativ (verneinenden) Voraussetzungen bezüglich der Zulassungsgründe mit der kumulativ positiv formulierten Bedingung der einstimmig festgestellten Unbegründetheit der Berufung. Diese Verbindung von negativen Bedingungen (kein Zulassungsgrund) mit einer positiv kumulativ zu berücksichtigenden Voraussetzung (Unbegründetheit der Berufung) führt zu erheblichen Verwirrungen und Missverständnissen in der Interpretation des § 522 Abs. 2 ZPO (Verwechslung von „und“ und „oder“).
 

II.
Der Entwurf der Regierung (Bundestagsdrucksache 17/5334)

Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung versucht, die evidenten Gerechtigkeitsdefizite des § 522 Abs. 2 ZPO durch verschiedene Regelungen zu mildern. Dabei meinen die Regierungsfraktionen, angebliche Vorteile des § 522 Abs. 2 ZPO erhalten und Nachteile durch eine Neuregelung vermeiden zu müssen. Wenn man die Stellungnahmen der Vertreter der Regierungsfraktionen prüft, tut man sich allerdings schwer, Vorteile des § 522 Abs. 2 ZPO (abgesehen von einem behaupteten Beschleunigungseffekt) überhaupt festzustellen.

1) Der Regierungsentwurf will die Gerechtigkeitsdefizite und die Rechtszersplitterung dadurch in den Griff bekommen, dass eine Nichtzulassungsbeschwerde nach § 522 Abs. 3 ZPO gegen den Beschluss eingeführt wird. Das ist eine Verbesserung des bisherigen Rechtszustandes aber keineswegs die beste Lösung. Denn die Rechtszersplitterung wird dadurch nur teilweise beseitigt. Eine gewisse Vereinheitlichung mag die Einschaltung des BGH auf Nichtzulassungsbeschwerden (Beschwer über 20.000,00 €, § 26 Nr. 8 EGZPO) bewirken. Aber angesichts der hohen Hürden, die die Rechtsprechung für die Zulassungsvoraussetzungen aufstellt, wird dies nicht zu einer wirklichen Rechtsvereinheitlichung führen. Die regional unterschiedliche (Ermessens-) Handhabung wird sich im Prinzip nicht ändern. Auf die (fehlerhafte) Ermessenshandhabung der Vorschrift der Berufungsgerichte hat die Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde keinen Einfluss. Die zu erwartenden Entscheidungen des BGH auf Nichtzulassungsbeschwerden werden die Praxis der Berufungsgerichte für oder gegen die Anwendung des § 522 Abs. 2 ZPO nicht entscheidend beeinflussen. Bezeichnenderweise vertritt im Übrigen einer der führenden Kommentare (ZPO Baumbach, Lauterbach, Hartmann, 69. Auflage 2011 § 522 Rn. 21) die fehlerhafte Auffassung, dass das Berufungsgericht nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden habe, ob die Voraussetzungen für den Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO vorliegen (vgl. Rezension Rimmelspacher NJW 2011, 1045).

Wenn bisher nach Ermessen vorgegangen worden ist, wird es in Zukunft erst Recht so sein. Denn der Zusatz im Regierungsentwurf, das Gericht möge noch festzustellen, dass eine mündliche Verhandlung nicht angemessen ist, verstärkt sogar eher den Eindruck bei den Gerichten, sie hätten es in der Hand, zwischen mündlicher Verhandlung und Beschlussentscheidung zu wählen. Der Unterschied zwischen einem unbestimmten Rechtsbegriff („angemessen“) und der Ausübung von Ermessen ist nur rechtstheoretisch. In der Praxis spielt er keine Rolle. Es wird – zu Lasten der Rechtssuchenden – nach nicht überprüfbarem Ermessen verfahren.

Der im Übrigen darin liegende kontradiktorische Widerspruch – angeblich zwingende Regelung einerseits und andererseits Feststellung der Angemessenheit oder Nichtangemessenheit mündlicher Verhandlung – ist bemerkenswert. Mit der Formulierung des entsprechenden Gesetzesvorschlags („Angemessenheitsregelung“) wird verkannt, dass ein Gericht nicht gleichzeitig (zwingend) die Voraussetzungen der Vorschrift des § 522 ZPO bejahen und verneinen kann, ohne gegen den logischen Grundsatz vom ausgeschlossenen Widerspruch zu verstoßen.

2) Abgesehen von dem offensichtlich äußerst entspannten Verhältnis zur gedanklichen Folgerichtigkeit: Der im Regierungsentwurf vorgeschlagene Weg der Einführung des Rechtsmittels führt zu zusätzlicher gerichtlicher Belastung. Der Vorschlag bindet unnötig und überflüssig Justizressourcen in einem Umfang, der über die Mehrbelastung bei einer vollständigen Streichung des § 522 Abs. 2 ZPO hinausgeht.

Bei Erfolg des Rechtsmittels wird es nämlich zur Zurückverweisung des BGH an die Berufungsgerichte und damit zur erneuten Befassung der Instanzgerichte mit dem Sach- und Streitstoff kommen müssen. Denn im Beschlussverfahren findet gerade keine Tatsachenfeststellung durch das Berufungsgericht mehr statt. Wenn der Beschluss fehlerhaft ist und das Berufungsgericht das nach Bejahung der Zulassungsvoraussetzung feststellt, wird es daher in aller Regel notwendig sein, weitere Tatsachenfeststellungen zu treffen, die nur nach Zurückverweisung durch die Instanzgerichte (nicht durch den BGH) getroffen werden können. Nur in seltenen Ausnahmefällen (nämlich wenn es ausschließlich nur noch um Rechtsfragen geht) wird der BGH selbst entscheiden können. In der Regel kommt es also zur Zurückverweisung. Dann wird die Sache vor dem Berufungsgericht erneut aufgerollt und kommt vielleicht in einem weiteren Rechtszug wieder zum BGH. Das führt zu deutlicher Mehrbelastung von Berufungsgerichten und BGH.

3) Entgegen der Meinung der Regierungsfraktionen gibt es keine Vorteile in der Anwendung des ohnehin handwerklich unzureichend gestalteten § 522 Abs. 2 ZPO mit seiner verwirrenden Verwendung von bejahenden und verneinenden kumulativen und alternativen Voraussetzungen. Die als Vorteil des Beschlussverfahrens angeführte Verkürzung der Verfahrensdauer ist mit Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde im Wesentlichen obsolet. Zur Verhinderung angeblich evident unbegründeter Berufungen und daraus resultierender Verfahrensverzögerungen braucht man die Vorschrift nicht. Ein Richter kann solche Prozesse auch rasch nach mündlicher Verhandlung durch Stuhlurteil entscheiden. Die Einlegung evident unbegründeter Berufungen zur Verfahrensverzögerung ist für den Beklagten sinnlos und kommt deshalb auch in der Praxis nur in Ausnahmefällen vor. Denn der Kläger kann aus dem Ersturteil jederzeit vollstrecken, notfalls auch durch Sicherungsvollstreckung nach § 720 a ZPO ohne Sicherheitsleistung.

Darüber hinaus: Die Rechtszersplitterung wird durch den Regierungsentwurf nicht vermieden, sondern durch das vom BGH nicht überprüfbare Kriterium der „Angemessenheit“ eher gefördert. Der Regierungsentwurf verfehlt damit – unter gleichzeitiger Einführung zusätzlicher Rechtsunsicherheit – die von ihm selbst gesteckten Ziele, nämlich neben der Verbesserung des Rechtsschutzes die Rechtsvereinheitlichung.

4) Wenn die unzureichend formulierte Vorschrift des § 522 Abs. 2 ZPO nicht aufgehoben wird, wird es nach meiner Überzeugung weitgehend bei den bekannten Gerechtigkeitsdefiziten und der eingetretenen Rechtszersplitterung bleiben bei gleichzeitiger Schaffung neuer Unsicherheiten durch das vom BGH nicht überprüfbare Angemessenheitskriterium.
 

III.
Die Entwürfe der Opposition (BTagsDrs 17/4431 und 17/5363 )

1) Demgegenüber schlagen die Fraktion der Grünen, der SPD und der Linken übereinstimmend die vollständige Abschaffung der sog. einstimmigen Beschlusszurückweisung vor. Mit diesem Vorschlag würde die Rechtszersplitterung vollständig beseitigt. Die mündliche Verhandlung wird in allen Fällen des Berufungsverfahrens obligatorisch. Das dient dem Rechtsfrieden und erhöht die Akzeptanz gerichtlicher Entscheidungen bei den Rechtssuchenden. Zutreffend wird das in der Begründung des Gesetzesentwurfs der SPD vom 19.01.2011 hervorgehoben.

Unter dem Gesichtspunkt der Erzielung gerechter Ergebnisse, der Akzeptanz der Rechtsprechung in der Öffentlichkeit und des Rechtsfriedens ist dieser Vorschlag die bessere Alternative. Dies entspricht auch dem eindeutigen Votum der Anwaltschaft. Anwälte stehen bei Prozessen ja auch auf der Seite des Berufungsbeklagten und haben in dieser Rolle Interesse an der Beschleunigung des Verfahrens. Sie sehen also beide Seiten. Dennoch: Der Vizepräsident der BRAK und Präsident der größten Anwaltskammer, in Deutschland, Rechtsanwalt Hansjoerg Staehle, hat im Rahmen einer Podiumsdiskussion in Hamburg am 05.10.2010 (dies in Übereinstimmung mit dem Verfasser) zu § 522 Abs. 2 ZPO erklärt, er kenne keinen einzigen in den Instanzen prozessrechtlich tätigen Anwalt, der für die Beibehaltung der § 522 Abs. 2 ZPO plädieren würde. Dieses einhellige Votum aus der Anwaltspraxis müsste den eher nur in der Theorie mit den Problemen vertrauten Gremien eigentlich zu denken geben.

2) Es bleiben zwei Einwände zu prüfen:

- Widerstrebt der Vorschlag der Opposition nicht dem Ziel, gerichtliche Verfahren im Berufungsverfahren möglichst schnell zu erledigen?

- Entsteht dadurch eine zusätzliche und nicht mehr verkraftbare Belastung der Justizressourcen verbunden mit entsprechenden finanziellen Auswirkungen?

Zum Einen ist die schnelle Entscheidung niemals ein Argument dafür, Gerechtigkeitsdefizite in Kauf zu nehmen. Zum Anderen bezweifle ich auch, dass die Einführung der Beschlusszurückweisung tatsächlich zu einer Beschleunigung des Verfahrens geführt hat, jedenfalls dann, wenn man § 522 Abs. 2 ZPO mit entsprechenden vorausgehenden Hinweisverfügungen und vollständigen Bearbeitungen durch alle beteiligten Richter Ernst nimmt. Zwar wird das in der Begründung des Regierungsentwurfs unter Hinweis auf eine entsprechende (offenbar vom Bundesjustizministerium erarbeitete) Statistik behauptet. Angeblich soll die durchschnittliche Verfahrensdauer, die bei Einleitung eines Verfahrens nach § 522 Abs. 2 ZPO anfällt, nur 4,6 Monate betragen. Es scheint mit aber nicht sicher, ob auf diese Statistik Verlass ist. Sie enthält Einflussfaktoren, die hinterfragt werden müssten und mit der Qualität des Verfahrens nichts zu tun haben. Denn möglicherweise handelt es sich um solche Fälle, die gerade auch mit mündlicher Verhandlung schnell hätten erledigt werden können. Vielleicht sind dabei auch Fälle berücksichtigt, bei denen schon auf die Hinweisverfügung eine Rücknahme der Berufung (angeblich in ca. 40 % der Fälle) erfolgt. Die bisherige Erkenntnis der Prozessparteien, dass mit § 522 Abs. 2 ZPO nach einem entsprechenden Hinweisbeschluss des Gerichts Schluss ist, hat sicherlich in vielen Fällen zur Zurücknahme der Berufung geführt, weil der Berufungsführer keine Alternative mehr gesehen hat. Diese „rasche“, aber zweifelhafte Erledigung wird mit der Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde ohnehin entfallen mit der Folge, dass der Beschleunigungseffekt der Verfahren nach § 522 Abs. 2 ZPO in Zukunft keine Rolle mehr spielen wird, auch wenn die Vorschrift aufrechterhalten bleibt.

Vor allem aber: Die vom Regierungsentwurf vorgeschlagene Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde gegen die Beschlüsse nach § 522 Abs. 2 ZPO beseitigt in allen Fällen der Angreifbarkeit des Beschlusses (bei Beschwer über 20.000,00 €, § 26 Nr. 8 EGZPO) den angeblichen zeitlichen Vorteil. Im Gegenteil führt sie auf Grund des geschilderten Verfahrens (Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH, ggf. Zurückverweisung etc.) zu einer zusätzlichen Verzögerung. Die bisher behauptete Verkürzung der Verfahren ist daher kein wirklich tragfähiges Argument für die Unterstützung des Regierungsentwurfs.

Selbst wenn die Verfahren zu einer Beschleunigung beitragen würden: Diese darf niemals zu Lasten der Einzelfallgerechtigkeit und der Transparenz der Rechtsprechung gehen. Beides muss durch die Zivilprozessordnung gesichert sein. Sonst schafft sie sich selbst ab.

3) Die Mehrbelastung der Gerichte ist bei der Realisierung des Vorschlags von SPD / Grünen / Linken geringer als diejenige bei Durchsetzung des Regierungsentwurfs.

Denn wenn eine mündliche Verhandlung vor dem Berufungsgericht durchgeführt worden ist, vergrößert sich die Chance, dass der BGH – wenn er angerufen wird – auch durchentscheiden kann. Wenn zuvor nur durch Beschluss entschieden worden ist (das impliziert unterlassene Tatsachenfeststellungen), werden in allen Fällen, in denen die Entscheidung für den Berufungsführer positiv ausfällt (mit ganz geringfügigen Ausnahmen der ausschließlichen Beurteilung von Rechtsfragen), tatsächliche Aufklärungen durch die Instanzgerichte nachgeholt werden müssen. Die Vorschläge der Opposition entlasten also im Ergebnis im Gegensatz zum Regierungsentwurf die Berufungsgerichte, die allerdings ohnehin nicht überlastet sind (Reinelt ZAP-Kolumne 2010, 243 „Überlastung der Richter im Zivilprozess?“).

Dagegen bleibt die Mehrbelastung des BGH aus meiner Sicht bei beiden Vorschlägen gleich.

Im Ergebnis führen also die Vorschläge der Opposition zu geringerer Justizbelastung als der Regierungsentwurf.

4) Die Abschaffung des § 522 Abs. 2 ZPO entsprechend den Vorschlägen der Opposition hat allerdings zur Folge (ebenso wie der Regierungsentwurf) eine zusätzliche Belastung des BGH. Diese tritt bei Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde in gleicher Weise ein neben der damit verbundenen Zusatzbelastung der Berufungsgerichte, die der Entwurf der Opposition vermeidet.

Wenn mündliche Verhandlungen durchgeführt worden sind, ist die Chance, dass der BGH durchentscheidet, wesentlich höher, als wenn zuvor durch Beschluss entschieden worden ist und demgemäß die entsprechenden tatsächlichen Aufklärungen in allen Fällen zwingend durch die Tatsacheninstanzen nachgeholt werden müssen.

Die Vorschläge der Opposition entlasten also die Berufungsgerichte stärker als der Regierungsentwurf. Die Mehrbelastung des BGH bleibt aus meiner Sicht bei beiden Vorschlägen gleich. Wie hoch diese Mehrbelastung sein wird, lässt sich – das stellen die Grünen in ihrem Vorschlag fest – nicht endgültig prognostizieren.

Derzeit werden von etwa 29.000 Verfahren, die als Revisionen oder Nichtzulassungsbeschwerden zum BGH gelangen könnten, ca. 2.900 Verfahren entschieden (Übersicht des BGH über den Geschäftsgang bei den Zivilsenaten in den Jahren 2008 und 2009). Das entspricht einem Anteil von 10 %. Mit mehr als 10 % der durch Beschlusszurückweisung erledigten Verfahren, (insgesamt rund 4.000 jährlich, also ca. 400), ist also von vornherein nicht zu rechnen. Das sind weniger als drei zusätzliche Verfahren pro BGH-Senat im Monat, von denen angesichts der geringen Annahmequote nur ein kleiner Prozentsatz zur mündlichen Verhandlung kommen wird. Tatsächlich ist wahrscheinlich noch von einem geringeren Anteil auszugehen (Michael Schultz, „Zur Reform der Beschlusszurückweisung nach § 522 Abs. 2, 3 ZPO“, Stellungnahme für die BRAK), wobei die Filterfunktion der BGH-Anwälte dazu führen wird, dass in vielen Fällen von der Durchführung des Verfahrens abgeraten wird (http://bghanwalt.de/veroeffentlichungen/vo_r62_c.htm).

Ich halte es deshalb für wahrscheinlich, dass die Belastung des BGH – die bei Abschaffung des § 522 Abs. 2 ZPO und bei Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde unter Beibehaltung der zitierten Vorschrift in etwa gleich sein dürfte – nicht allzu hoch sein wird.

Über die Entlastung des BGH muss allerdings gleichwohl nachgedacht werden. Dafür bietet sich an, die durch das FamFG eingeführten zulassungsfreien Rechtsbeschwerden des § 70 Abs. 3 ZPO wieder den Oberlandesgerichten zuzuweisen. Die systemwidrige Übertragung auf den BGH hat dazu geführt, dass die Quote der Rechtsbeschwerden beim BGH um 40 % angestiegen und die Belastung des BGH dadurch kolossal gewachsen ist. Die Überflutung des BGH mit zulassungsfreien Rechtsbeschwerden, die zum großen Teil keinerlei rechtsgrundsätzliche Bedeutung, häufig jedoch querulatorischen Charakter haben und entgegen der Auffassung des Bundesjustizministeriums keineswegs in allen Fällen Grundrechte berühren (Beispiel: Streit zwischen Geschwistern um die Betreuung dementer Eltern), sollte dringend überdacht werden. Bei dieser übereilten Regelung des FamFG sind offensichtlich Erfahrungen in der Praxis nicht ausreichend eingeflossen (vgl. hierzu Reinelt ZAP Kolumne 2011, Seite 339 „Blockiert der Gesetzgeber den BGH?“).

Der überschaubaren Mehrbelastung des BGH (sowohl im Falle der Realisierung des Regierungsentwurfs als auch beim Vorschlag der Opposition) stehen beim Alternativvorschlag der Opposition gegenüber die Beseitigung sämtlicher Gerechtigkeitsdefizite, die Vermeidung der gegenwärtigen unerträglichen Rechtszersplitterung des Verfahrensrechts im Zivilprozess und die Beseitigung einer handwerklich total verunglückten zivilprozessualen Vorschrift (§ 522 Abs. 2 ZPO).
 

IV.
Fazit

Alle Überlegungen sprechen deshalb für die ersatzlose Abschaffung des § 522 Abs. 2 ZPO nach dem Vorschlag der Oppositionsparteien und damit gegen den Vorschlag der Bundesregierung.
 

V.
Veröffentlichungsnachweise

Ich füge dieser Stellungnahme Hinweise auf einige meiner Veröffentlichungen bei, die mit diesem Thema zu tun haben. Sie können sämtlich unter unserer Homepage http://bghanwalt.de/veroeffentlichungen.htm abgerufen und ausgedruckt werden.

• ZAP 2009, Fach 4, Seite 805 „Entwicklungen im anwaltlichen Berufsrecht und Singularzulassung beim BGH

• ZAP 2009, 203 „Die unendliche Geschichte § 522 Abs. 2 ZPO

• ZAP-Kolumne 2010 Seite 1195 „Zu kurz gesprungen - die geplante Änderung des § 522 ZPO

• BRAK Mitteilungen 6/2010 Seite VII Leserbrief zu Wolf „Zwischen Effizienz und Akzeptanz - zur Reform der Berufungszurückweisung durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO

• Legal Tribune Online, Oktober 2010 „Zurückweisung der Berufung durch Beschluss

• ZAP-Kolumne 2010, 243 „Überlastung der Richter im Zivilprozess?

• NJW Editorial NJW 2010 Heft 44 „Einstimmige Beschlusszurückweisung

• Legal Tribune Online LTO, März 2011 „Zurückweisung der Berufung durch Beschluss - Die überraschende Blauäugigkeit des Rechtsausschusses

• ZAP-Kolumne 2011, Seite 339, „Blockiert der Gesetzgeber den BGH?