Legal Tribune online, 20. Oktober 2015, www.lto.de

Revision im Zivilprozess

Ob schon beim Berufungsgericht oder erst beim BGH: Die Zulassungsquote für Revisionen ist gering. Zu gering für ein mittelfristig wettbewerbsfähiges Rechtssystem. Und für Gerechtigkeit. Ein Appell von Ekkehart Reinelt.

Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof

 

Die Revision im Zivilprozess gibt es gegen Berufungsentscheidungen des Landgerichts oder des Oberlandesgerichts. Sie ist statthaft, wenn sie vom Ausgangsgericht oder vom Bundesgerichtshof zugelassen wird.

Das aber geschieht nur selten. Weitaus häufiger liest man "Die Revision wird nicht zugelassen", auch der Bundesgerichtshof(BGH) beschränkt sich gern auf die begründungslose Abweisung der Nichtzulassungsbeschwerde.

Das ist nicht im Sinne einer Sicherung und Vereinheitlichung der Rechtsprechung. Es wird zudem den Trend verstärken, dass die Parteien in außergerichtliche, nicht-öffentliche Streitlösungen ausweichen. Dieser Entwicklung können und müssen sowohl die Berufungsgerichte als auch der BGH entgegenwirken. Auch wenn nicht all ihre Gründe justiziabel sind.

Die Theorie: Leitentscheidungen und Entlastung

Zum Rechtsstaat gehört die Garantie wirkungsvollen Rechtsschutzes. Diesen will das Grundgesetz nicht nur nach Art. 19 Abs. 4 GG, sondern auch durch den allgemeinen Justizgewährungsanspruch sicherstellen, der Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips ist. Die Garantie des Rechtsschutzes gewährleistet den Zugang zu den Gerichten, die Prüfung des Streitbegehrens in einem förmlichen Verfahren und die verbindliche gerichtliche Entscheidung.

Der Bundesgerichtshof BGH als oberstes Zivilgericht hat die wichtige Funktion, für die Weiterentwicklung des Rechts und die Vereinheitlichung der Rechtsprechung zu sorgen. Seine Entscheidungen haben in der Praxis Bindungswirkung. Jedes Gericht orientiert sich an ihren Leitlinien. Der Spagat, Einzelfälle sachgerecht zu entscheiden und gleichzeitig die Vereinheitlichung der Rechtsprechung sicher zu stellen, ist nicht immer einfach.

Für den Zugang zum BGH als höchstem Rechtsmittelgericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit galt bis 2002 die Wertgrenze von 60.000,--DM (Streitwertrevision). Nach der früheren Rechtslage konnte der BGH über die Annahme der Revision bei Erreichen der Wertgrenze frei entscheiden, ohne die Zulassung zu begründen. Er konnte sich dann unmittelbar mit den wichtigen grundsätzlichen Rechtsfragen befassen.

Seit 2002 sieht die ZPO die Zulassungsrevision vor. Es kommt nur zur Revision, wenn sie entweder vom Berufungsgericht oder vom BGH nach Nichtzulassungsbeschwerde (bei einer Beschwer über 20.000,00 €, § 26 Nr. 8 EGZPO) zugelassen wird.

Mit der Ausgestaltung der Zulassungsgründe nach § 543 Abs. 2 ZPO wollte der Gesetzgeber bei der Reform des Zivilprozesses einerseits sicherstellen, dass der BGH in wesentlichen und grundsätzlichen Fragen – freilich unter Berücksichtigung der Einzelfallgerechtigkeit – Leitentscheidungen fällt. Gleichzeitig hat man sich aber auch eine Entlastung des obersten Zivilgerichts versprochen. Tatsächlich aber hat dieses System erhebliche Schwächen.

Die Praxis der Berufungsgerichte

Die weitaus meisten Berufungsurteile begnügen sich ohne nähere Begründung mit dem Tenor: "Die Revision wird nicht zugelassen". Andere treffen überhaupt keine Aussage. Das bedeutet: Die Revision ist nicht zugelassen.

Dabei ist aus Sicht der Partei die Zulassung der Revision durch das Berufungsgericht der einfachere Weg. Instanzanwälte sind deshalb gut beraten, im Berufungsverfahren auch auf eine reflektierte Entscheidung über die Zulassung zu drängen und schon mit Blick auf die Zulassungsgründe nach § 543 Abs. 2 ZPO vorzutragen.

Tatsächlich aber werden die wenigen Zulassungen der Instanzgerichte oft in Rechtsgebieten ausgesprochen, die im Ergebnis von geringerer Bedeutung sind. Häufig handelt es sich um Berufungsurteile der Landgerichte (z.B. Betriebskostenabrechnungen und Schönheitsreparaturen im Mietrecht, Entschädigungen im Reisevertragsrecht und andere Streitfälle mit geringem Gegenstandswert).

Nicht alle Gründe für die geringe Neigung, die Revision zuzulassen, sind justiziabel: Mit der Zulassung ist Mehrarbeit in Form zusätzlichen Begründungsaufwands verbunden. Für viele Richter an Berufungsgerichten ist ihre Aufgabe mit der die Instanz abschließenden Entscheidung erfüllt. Der Weg zur formelhaften Nichtzulassung ist kurz und in beruhigender Weise nicht endgültig, weil der Partei in der Regel die Nichtzulassungsbeschwerde offen steht.

Die Zulassung mag schließlich aus der Sicht mancher Berufungsgerichte auch mit einem als Risiko empfundenen Nachteil verbunden sein: Der Überprüfung der eigenen Entscheidung durch das Revisionsgericht. Viele werten eine Aufhebung als Niederlage.

Die Praxis beim BGH

Wenn das Berufungsgericht die Revision nicht zulässt, muss der BGH die Zulassung auf die Beschwerde der unterlegenen Partei selbst prüfen (§ 544 ZPO). Nach den Zugangsbeschränkungen des § 543 Abs. 2 ZPO muss die Sache von grundsätzlicher Bedeutung oder eine Entscheidung des BGH nötig sein, um das Recht fortzubilden oder eine einheitliche Rechtsprechung zu sichern.

Die Bundesrichter - und die Rechtsanwälte beim höchsten deutschen Zivilgericht – wenden einen großen Teil ihrer Arbeitskraft für diese formale Prüfung von Nichtzulassungsbeschwerden auf, die letztlich nicht der Rechtsvereinheitlichung und Rechtsfortbildung zugutekommen.

Die Quote der Zulassung von Revisionen durch den BGH ist – auch wenn sie in letzter Zeit etwas gestiegen ist – erschreckend gering. Die weitaus meisten Nichtzulassungsbeschwerden enden mit einem formelhaften Beschluss: "Die Nichtzulassungsbeschwerde wird zurückgewiesen. Von der Begründung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist (§ 544 Abs. 4 Satz 2 ZPO)".

Die ZPO gestattet dieses Verfahren, auch wenn es nach der Vorstellung des Gesetzgebers sicher nicht der Regelfall werden sollte.

Aufwändige Verfahrensrügen im Vorverfahren

Die Mehrbelastung der Bundesrichter wie auch der Rechtsanwälte beim BGH resultiert nicht nur daraus, dass gegenüber der früheren Rechtslage (Streitwertrevision) mit dem Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren ein Verfahrensschritt hinzugekommen ist. Es geht vielmehr zudem fast immer mindestens auch um Verfahrensrügen, zum großen Teil mit verfassungsrechtlichem Bezug.

Angesichts der unscharfen Abgrenzungskriterien der Zulassungsvoraussetzungen und der engen Zulassungspraxis des höchsten deutschen Zivilgerichts- nur diejenigen Zulassungsvoraussetzungen, welche die BGH-Anwälte in den Beschwerdeschriftsätzen begründet darlegen, werden einer Prüfung unterzogen - sichern sich die Rechtsanwälte beim BGH häufig zusätzlich ab durch Verfahrensrügen, insbesondere die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs durch das Berufungsgericht (Art. 103 GG).
Sie wollen damit über einfach-rechtliche, nicht revisible Rechtsfehler des Berufungsgerichts hinaus verfassungsrechtlich relevante Verstöße aufdecken. Solche führen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nämlich zwingend zur Zulassung der Revision.

Ihre Prüfung erfordert aber vom Bundesrichter eine penible Durcharbeitung der Gerichtsakte auch unter dem Gesichtspunkt verfassungsrechtlicher Erwägungen, um anhand des Vortrags in der Nichtzulassungsbeschwerde mögliche Verletzungen rechtlichen Gehörs aufzuspüren und im Anschluss daran deren Relevanz für das Endergebnis der Entscheidung zu untersuchen. Das führt zu einer spürbaren Mehrarbeit im Zusammenhang mit der eigentlich als Vorfrage gedachten Prüfung der Zulassungsgründe.

Mehr Revision zulassen, in allen Instanzen

Dieser erhebliche Aufwand sollte besser für die Prüfung rechtsgrundsätzlicher Fragen des materiellen Zivilrechts und des Prozessrechts aufgewendet werden. Es ist zu befürchten, dass überlastete Richter bei dieser Situation im Zweifel immer häufiger davon Gebrauch machen, die Nichtzulassungsbeschwerde ohne Begründung zu verwerfen (zulässig nach § 544 Abs. 4 ZPO). Eine solche Handhabung des Gesetzes ist aber sicherlich nicht im Sinne einer Sicherung und Vereinheitlichung der Rechtsprechung.

Bei den Prozessparteien stoßen die lapidaren, begründungslosen Entscheidungen auf Unverständnis und fördern die Justizverdrossenheit. Die Prozessbeteiligten haben dann häufig den Eindruck, ihre Sache sei nicht wirklich ernsthaft geprüft worden. Von den intern oft aufwändigen Voten der Berichterstatter erfahren sie nichts. Die Beratung der Richter ist bekanntlich – anders als in der Schweiz – geheim.

Verbreitete Unzufriedenheit mit den begründungslosen Zurückweisungen hat zur Folge, dass immer mehr Prozessparteien auf außergerichtliche Streitlösungsmodelle ausweichen.

Wenn der BGH im Wettstreit mit außergerichtlichen Streitlösungen nicht unterliegen und weiterhin seiner wichtigen Aufgabe zur Rechtsvereinheitlichung und Rechtsfortbildung im gebotenen Umfang nachkommen soll, müssen auf allen Ebenen Konsequenzen gezogen werden: Die Berufungsgerichte sollten häufiger kritisch prüfen, ob und wann - entgegen der gegenwärtig überwiegenden, pauschalen Ablehnung - eine Zulassung der Revision sinnvoll und geboten ist. Der BGH muss seine überaus strenge und restriktive Zulassungspraxis - im Rahmen seiner durch die Personalausstattung gezogenen Belastungsgrenzen – überdenken und sich wichtigen Sachfragen widmen. Nur dann kann er seinen zentralen Aufgaben nachkommen: Gerechte Entscheidung des Einzelfalls, Stiftung von Rechtsfrieden anstelle von Justizverdrossenheit und Vereinheitlichung und Fortbildung des Rechts.