jurisPR-BGHZivilR 17/2009 Anm. 3

Kein Ausgleichsanspruch nach Fluggastrechteverordnung wegen „Nichtbeförderung“ bei verpasstem Anschlussflug

Anmerkung zu BGH 10a. Zivilsenat, Urteil vom 30.04.2009 - Xa ZR 78/08

Dr. Barbara Genius, Rechtsanwältin beim Bundesgerichtshof

Leitsatz
Dem Fluggast steht ein Ausgleichsanspruch wegen „Nichtbeförderung“ auf einem Flug zu, wenn die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:
1. Der Fluggast verfügt entweder über eine bestätigte Buchung für den betreffenden Flug oder ist von einem anderen Flug, für den er eine solche Buchung besaß, auf den betreffenden Flug „verlegt“ worden.
2. Der Fluggast hat sich außer im Fall der „Verlegung“ und jedenfalls wenn ihm nicht schon vorher die Mitnahme verweigert worden ist zur angegebenen Zeit oder mangels einer solchen Angabe 45 Minuten vor dem planmäßigen Abflug zur Abfertigung eingefunden.
3. Dem am Flugsteig erschienenen Fluggast wird der Einstieg gegen seinen Willen verweigert.

A. Problemstellung
Kann ein Fluggast eine pauschalierte Ausgleichszahlung nach der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlamentes und des Rates über die gemeinsame Regelung für die Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen (Fluggastrechteverordnung) verlangen, wenn er wegen eines verspäteten Zubringerfluges einen Anschlussflug nicht erreicht?

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger und seine Lebensgefährtin hatten bei der Beklagten für den 27.09.2006 eine Flugreise von Frankfurt am Main über Paris nach Bogota gebucht. Das Flugzeug nach Paris sollte am 7.25 Uhr starten und um 8.45 Uhr in Paris landen, der Weiterflug war für 10.35 Uhr vorgesehen. Die Reisenden gaben ihr Gepäck zwar bis Bogota auf, erhielten jedoch in Frankfurt noch keine Bordkarten für den Weiterflug. Der Abflug in Frankfurt verzögerte sich wegen Nebels und des überfüllten Luftraums über Paris, so dass die Landung in Paris erst um 9.43 Uhr erfolgte. Als die Reisenden am Terminal eintrafen, wurden sie unter Hinweis auf den bereits abgeschlossenen Einsteigevorgang für den Flug nach Bogota nicht mehr abgefertigt. Sie konnten erst am nächsten Tag nach Bogota weiterfliegen.

Die Parteien streiten darüber, ob es eine „Nichtbeförderung“ im Sinne der Verordnung darstellt, wenn ein Fluggast einen Anschlussflug nicht erreicht, weil der – gemeinsam mit dem Anschlussflug gebuchte und von derselben Fluggesellschaft durchgeführte – Zubringerflug erheblich verspätet erfolgte. Die Reisenden haben jeweils eine Ausgleichszahlung in der – für die verweigerte Beförderung auf einem Flug über eine Entfernung von mehr als 3.500 km vorgesehenen – Höhe von 600 € nach Art. 4 Abs. 3, Art. 7 der Verordnung (EG) 261/2004 (Fluggastrechteverordnung) beansprucht.

Amts- und Oberlandesgericht haben die Klage abgewiesen. Der BGH hat diese Entscheidungen bestätigt.

C. Kontext der Entscheidung
Seit dem 17.02.2005 ist die Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlamentes und des Rates über die gemeinsame Regelung für die Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste (Fluggastrechteverordnung) in Kraft. Sie soll dem Flugpassagier im Vergleich zu ihrer Vorgängerin, der Verordnung (EG) Nr. 295/91, mehr Rechte einräumen. Während die Vorgängerregelung nur bei Überbuchungen eingriff, gewährt die jetzige Verordnung verschuldensunabhängige Ansprüche auf Ausgleichs- und Betreuungsleistungen bei Nichtbeförderung, Annullierung und großer Verspätung von Flügen. Dabei geht der Anspruch auf Ausgleichsleistungen – ohne Nachweis eines konkret und in der Höhe eingetretenen Schadens – auf eine entfernungsabhängige Pauschalsumme, die hier eingeklagt war.

Die Fluggastrechteverordnung wirft zahlreiche Rechtsfragen auf. Das Urteil des BGH befasst sich mit einer solchen streitigen Rechtsfrage, ob dem Fluggast, der einen Anschlussflug wegen eines verspäteten Zubringerfluges nicht erreicht, ein Anspruch auf Ausgleichsleistung nach Art. 4 Abs. 3, Art. 7 der Verordnung (EG) 261/2004 zusteht.

Der BGH verneint die Rechtsfrage und klärt in seiner Entscheidung, unter welchen Voraussetzungen im Falle der Nichtbeförderung ein Anspruch auf Ausgleichsleistung nach der Verordnung besteht. In Auslegung der Verordnung fasst das Urteil diese Voraussetzungen nach Art. 4 Abs. 3 und – über Art. 2 Buchst. j – Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) 261/2004 wie folgt:

(1) Der Fluggast verfügt entweder über eine bestätigte Buchung für den betreffenden Flug oder ist von einem anderen Flug, für den er eine solche Buchung besaß, auf den betreffenden Flug „verlegt“ worden.

(2) Der Fluggast hat sich – außer im Fall der „Verlegung“ und jedenfalls wenn ihm nicht schon vorher die Mitnahme verweigert worden ist (vgl. BGH, Vorlagenbeschl. v. 07.10.2008 - X ZR 96/06 - RRa 2009, 89) – zur angegebenen Zeit oder mangels einer solchen Angabe 45 Minuten vor dem planmäßigen Abflug zur Abfertigung („Check-in“) eingefunden.

(3) Dem am Flugsteig erschienenen Fluggast wird der Einstieg („Boarding“) gegen seinen Willen verweigert.

Diese Voraussetzungen sind im Fall des wegen eines verspäteten Zubringerfluges verpassten Anschlussfluges nicht erfüllt: Der Flugpassagier hat sich nicht rechtzeitig zur Abfertigung für den Anschlussflug eingefunden und ihm ist infolgedessen nicht der Flugeinstieg bei Erscheinen gegen seinen Willen verweigert worden.

Der BGH grenzt damit gegen Teile der Rechtsprechung (vgl. LG Leipzig, Urt. v. 10.11.2008 - 06 S 319/08, 6 S 319/08 - RRA 2009, 94; LG Berlin, Urt. v. 11.10.2007 - 57 S 39/07 - RRa 2008, 42; AG Frankfurt, Urt. v. 25.01.2007 - 29 C 499/06 - 46, 29 C 499/06 - RRa 2007, 135; AG Hamburg-Harburg, Urt. v. 05.12.2006 - 14 C 248/06 - RRa 2007, 88) und Literatur (vgl. etwa Schmid, RRa 2008, 202, 208 ff.) den Anwendungsbereich des Ausgleichsanspruchs ein. Die Entscheidung hebt hervor, dass die Verordnung – ungeachtet des erstrebten hohen Schutzniveaus für Fluggäste – kein umfassendes Regelwerk enthält, das Ansprüche auf Ausgleichszahlungen, Erstattung von Entgelten und Betreuungsleistungen (Art. 7 bis 9) für sämtliche Fälle vorsähe, in denen der Fluggast nicht oder nicht zu dem geschuldeten Zeitpunkt befördert wird. Insbesondere der Fall, dass sich der Fluggast – aus welchen Gründen auch immer – nicht rechtzeitig zur Abfertigung am Flughafen einfindet und deshalb einen Flug nicht erreicht, ist in der Verordnung nicht geregelt.

Nichts anderes gilt, wenn – wie hier – das Luftfahrtunternehmen den Zubringer- und den Anschlussflug durchführt und der Fluggast sich rechtzeitig zur Abfertigung für den Zubringerflug eingefunden hat. Hier folgt der BGH der Rechtsprechung des EuGH (EuGH, Urt. v. 10.07.2008 - C-173/07 „Emirates Airlines/Schenkel“ - RRa 2008, 237 Tz. 32), nach der – in „segmentierender“ Betrachtungsweise – der Flug im Sinne der Verordnung nicht mit der Flugreise gleichzusetzen ist; Flug ist vielmehr, wie Art. 2 Buchst. h der Verordnung zeigt, auch bei einem einheitlichen Beförderungsvertrag die einzelne „Einheit“ einer Luftbeförderung, die von einem Luftverkehrsunternehmen durchgeführt wird, das die entsprechende Flugroute festlegt.

Auch einer aus Sinn und Zweck der Verordnung – Sicherstellung eines hohen Schutzniveaus für Fluggäste und Verbraucherschutz – hergeleiteten erweiternden Anwendung der Verordnung auf Fälle der „Nichtbeförderung“ wegen eines verspäteten Zubringerfluges erteilt der Bundesgerichtshof eine ausdrückliche Absage, hinter der sich eine Interessenbetrachtung verbirgt: Art. 4 Abs. 3 der Verordnung (EG) 261/2004 gibt einen verschuldens- und schadensunabhängigen Ausgleichsanspruch ohne Exkulpationsmöglichkeit für das Luftfahrtunternehmen. Eine solche Ausgleichsverpflichtung ist angemessen in den vom Verordnungsgeber als Regelfall angesehenen Überbuchungsfällen: Hat das Flugunternehmen im Interesse einer möglichst vollständigen Auslastung des Flugs bewusst überbucht, soll es zu einem finanziellen Ausgleich gegenüber denjenigen Fluggästen verpflichtet sein, die in Gestalt einer Zurückweisung die Folgen seiner nicht aufgegangenen Kalkulation tragen müssen. Auf die „Nichtbeförderung“ wegen eines verspäteten Zubringerfluges passt – so der BGH insbesondere mit Blick auf das Fehlen einer Exkulpationsmöglichkeit – diese ratio legis nicht.

Sollte die Verordnung (EG) Nr. 261/2004, hinsichtlich der die Entscheidung an anderer Stelle offen lässt, ob der Anwendungsbereich des Art. 4 auf Überbuchungsfälle beschränkt ist oder im Umkehrschluss aus Art. 2 Buchst. j der Verordnung gefolgert werden könnte, dass der Ausgleichsanspruch auch in Fällen einer willkürlichen oder diskriminierenden Weigerung, den Fluggast an Bord zu nehmen, ausgelöst wird, über ihren Wortlaut hinaus dennoch beabsichtigt haben, auch den Fall des wegen eines verspäteten Zubringerfluges verpassten Anschlussfluges zu erfassen, müsste mithin die Verordnung geändert werden (vgl. Lamberz, RRa 2009, 62, 65).

D. Auswirkungen für die Praxis
Das Urteil des BGH klärt allgemein, unter welchen Voraussetzungen im Falle der Nichtbeförderung ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen nach Art. 4 Abs. 3, Art. 7 der Verordnung (EG) 261/2004 besteht. Es überträgt die Segment-Betrachtung aus dem Emirates-Urteil und bestätigt damit die Rechtsprechung des EuGH. Im Falle des wegen eines verspäteten Zubringerfluges verpassten Anschlussfluges stehen dem Fluggast grundsätzlich keine Ausgleichsansprüche nach Art. 4 Abs. 3, Art. 7 der Verordnung (EG) 261/2004 zu; eine anspruchsauslösende Verweigerung des Einstiegs ist allenfalls unter zusätzlichen Voraussetzungen – wenn etwa die Reisenden bereits über Bordkarten für den Anschlussflug verfügten (vgl. OLG Hamburg, Beschl. v. 06.11.2007 - 6 U 94/07 - RRa 2008, 139) – denkbar. Letztlich verweist die Entscheidung die Reisenden im Falle des wegen eines verspäteten Zubringerfluges verpassten Anschlussfluges auf vertragliche Schadensersatzansprüche, die nicht Gegenstand des Rechtsstreits waren und durch die Fluggastrechtverordnung nicht ausgeschlossen werden (vgl. zum Verhältnis luftverkehrsrechtlicher Ausgleichsleistungen und reisevertraglicher Gewährleistungsansprüche Bollweg, RRA 2009, 10 ff.).